Das Erste was, auffällt, ist der süssliche Gestank. Ein Geruch, der regelrecht an den Kleidern zu kleben scheint.
Verantwortlich dafür ist eine der grössten offenen Mülldeponien der Philippinen. Sie liegt in der Hauptstadt Manila im Viertel Lupang Pangako, fast auf der Stadtgrenze im Nordosten.
Lupang Pangako bedeutet «gelobtes Land». En zynischer Name für ein Viertel, in dem einer der grössten Abfallberge der Welt Mensch und Natur vergiftet.
Die Ausmasse der Mülldeponie sind gigantisch. Sie ist grösser als die Berner Altstadt und am höchsten Punkt gleich hoch wie das Berner Münster – also rund 100 Meter.
Willkommen im «gelobten Land»
Am Fuss dieses Berges leben rund 30'000 Menschen. Etwa 1000 von ihnen leben vom Plastik-Rezyklieren, in einer kleinen Nachbarschaft im Distrikt Lupang Pangako. Die Menschen dort nennen sie schlicht «Plastikan».
Seit drei Jahren besuche ich «Plastikan» regelmässig. Der letzte Besuch fand im Februar kurz vor der Corona-Pandemie und den anschliessenden Lockdowns weltweit statt.
Vor drei Jahren lernte ich Ka Pando Robis kennen. Er ist so etwas wie der inoffizielle Bürgermeister und das Sprachrohr der kleinen Gemeinschaft.
«Plastikan» bedeutet auf Philippinisch so viel wie: «Dort, wo mit Plastik gearbeitet wird.» «Plastikan», das ist eine sehr arme Nachbarschaft mit Häusern gebaut aus sogenannten Hollowblocks – grau-weisse, minderwertige Backsteine, deren Dächer, wenn nicht mit Plastik notdürftig zusammengeflickt, aus rostigem Wellblech bestehen.
Und überall ist Plastik. Sei es am Boden, achtlos weggeworfen, oder sauber zu Ballen geschnürt – bereit für den Weiterverkauf.
Selbst der Boden, auf dem die Gemeinschaft lebt, besteht aus Plastik und Abfällen, versteckt unter einer dünnen Schicht Erde. Bei jedem Schritt gibt der Boden leicht nach. Jeder Schritt wird durch Müll abgefedert.
Die Abfälle kommen von Einkaufszentren, Hotels und Wohnungen. Hier wird der Müll getrennt: Plastik, Metall, Karton und Restmüll. Alles, was wiederverwertbar ist, wird gesäubert und weiterverkauft – damit alle irgendwie an Geld kommen und ihre Familien ernähren können.
Früher sei es einfacher gewesen, an Abfall zu kommen, erzählt mir Ka Pando. Die Menschen hätten direkt vom Müllberg Plastik, Metalle oder andere Abfälle eingesammelt und aufbereitet.
Das ist heute nur noch eingeschränkt möglich, da die Regierung den Zugang zum Abfallberg 2019 stark erschwert hat. Der offizielle Grund ist eine Mülllawine, die vor 20 Jahren hunderte von Müllsucherinnen und -sucher unter sich begraben hat.
Von Kokospalmen zum Abfallberg
Ka Pando kommt ursprünglich aus der Provinz Masbate, mehr als 500 Kilometer südlich von Manila. Er, damals 14 Jahre alt, verliess Masbate vor 30 Jahren Richtung Manila – in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Das Leben in der Provinz Masbate sei karg und ärmlich gewesen. Seine Biografie ist nicht ungewöhnlich in dieser Nachbarschaft.
Ob es denn in «Plastikan» besser sei, habe ich ihn gefragt, worauf Ka Pando antwortete: «Auch wenn wir hier nur mit Müll arbeiten, wir können uns jeden Tag drei Mahlzeiten leisten.»
Er konnte sogar seine Familie in der Provinz unterstützen und es blieb genug Geld für eine eigene Familie übrig, die heute in einem kleinen Backsteinhaus mit Wellblech-Dach wohnt.
Dank dem Müll kann ich meine Familie ernähren und habe meinen Kindern sogar eine Schulbildung ermöglicht.
Sozialer Aufstieg dank Plastik
Trotz dieser widrigen Lebensumstände gelang Ka Pando ein bescheidener sozialer Aufstieg. Er ist nicht nur der inoffizielle Bürgermeister und das Sprachrohr der Gemeinschaft. In seinen 30 Jahren in «Plastikan» konnte er sich ein eigenes Plastik-Recycling-Geschäft – Ankauf von Plastikmüll und Weiterverkauf von sortiertem Plastik – aufbauen. Zudem beschäftigt Ka Pando fünf Mitarbeitende, denen er bis zu 14'000 Pesos, umgerechnet 280 Franken, auszahlen kann, wenn der Monat einträglich ist.
Dieser Aufstieg hat allerdings Spuren hinterlassen. Ka Pandos Hände und Schienbeine sind völlig vernarbt. In der Nachbarschaft grassieren Tuberkulose und Denguefieber. Die hygienischen Zustände sind katastrophal.
Für den ungesündesten Teil der Arbeit, das Waschen von Plastik und das Aussortieren, sind seine Angestellten verantwortlich. Sie stehen sieben Tage in der Woche, zwölf Stunden lang, hüfttief im dunkelgrauen Wasser und befreien das Plastik vom Unrat.
Frühmorgens beginnen wir und stehen den ganzen Tag im Wasser und waschen Plastik. Bis die Nacht hereinbricht.
Schon lange ernährt der Berg
Menschen, die neben dem Müllberg leben und Plastik rezyklieren, das gibt es seit der Eröffnung der offenen Mülldeponie vor 50 Jahren. Solange schon existiert dieser informelle Wirtschaftssektor. Solange schon leben tausende Menschen in der Halblegalität, ohne rechtlichen Schutz, ohne Schutz vor den schlimmen hygienischen Zuständen.
Lange schaute die lokale Regierung weg. 2019 änderte sich das. Die Menschen von «Plastikan» wurden von der lokalen Regierung als illegale Siedler taxiert. Sie seien dafür verantwortlich, dass die Gegend so dreckig und heruntergekommen sei.
Ein Vorwurf, den Ka Pando nicht auf sich sitzen lässt: «Wir sagen immer wieder: Diese Arbeit ist eine ehrenvolle Tätigkeit – ich bin stolz darauf. Wir stören niemanden, wir stehlen nicht, wir verdienen unseren Lebensunterhalt selbst.»
Halblegalität und Korruption im gelobten Land
Aus Sicht der Regierung leben Ka Pando und seine Gemeinschaft auf Land, das dem Staat gehört und bald privatisiert werden soll. Das böte ihnen eigentlich die Möglichkeit, das Land zu kaufen und klare Verhältnisse zu schaffen. Das Geld hätten sie beisammen, um endlich aus dem informellen Graubereich herauszukommen. Aber Landkauf und -verkauf auf den Philippinen ist häufig undurchsichtig und korrupt.
Das ist auch in diesem Fall so, wie Ka Pando sagt: «Anscheinend hat jemand anderes das Land schon gekauft. Wir konnten nicht einmal mitbieten. Ich habe der Regierung gesagt, wir leben dort. Wir haben doch Anrecht auf das Land. Die lokale Regierung müsste uns doch helfen, damit wir unsere Lebensumstände verbessern können. Es macht mich fassungslos, dass ebendiese Regierung uns nun vertreiben möchte.»
Es folgten Einschüchterungsversuche durch die Polizei. Mit Bulldozern sind Polizisten schon vorgefahren und wollten die Häuser einreissen. Ka Pando und die Gemeinschaft von «Plastikan» konnten dies mit Menschenketten und Holzbarrikaden knapp verhindern.
Vermummte Männer haben schon vier Männer aus der Nachbarschaft erschossen. Todesschwadronen seien das gewesen, vermutet Ka Pando, bezahlt von der lokalen Regierung oder dem Käufer des Landes.
Wenn es nicht mit Gewalt und Angst gehe, so sagt Ka Pando, werde es die lokale Regierung mit Geld versuchen, doch für ihn ist klar: «Ich verkaufe meine Prinzipien nicht. Wenn wir von hier weg sollen, dann erfüllt unsere Forderungen: Gebt uns Wohnraum in der Stadt und reguläre Arbeit, damit wir unseren Lebensunterhalt bestreiten können.»
Jetzt auch noch Corona
Die Coronakrise trifft diese Nachbarschaft hart. Ihr Lebensunterhalt, das Waschen von Plastik, erfordert Plastikmüll, den man aufbereiten kann. Durch die strengen Lockdownmassnahmen fahren aber keine Lastwagen mehr, die Abfall in die Nachbarschaft oder das gewaschene Plastik in die Fabriken bringen. Dadurch sind die Einnahmen weggebrochen. Die Ernährungssituation ist prekär. Viele hungern.
Hilfe von der lokalen Regierung erhalten die Menschen nicht, und die lokalen NGOs haben kaum noch Ressourcen, um zu helfen. Ka Pandos Position ist noch wichtiger geworden in dieser Zeit, denn die Regierung hilft den Menschen auch medizinisch nicht. Es fehlt an medizinischer Versorgung und Coronatest-Kits.
Diese Missstände prangert Ka Pando an, jedoch ist die politische Situation in den Philippinen noch autokratischer geworden. Und das macht das Leben für Ka Pando, für alle Aktivisten, gefährlicher. Er sei auf einer Abschussliste, erzählte mir eine lokale NGO im Telefongespräch.
Trotz dieser schwierigen Umstände leben die Menschen weiter, kämpfen gegen die Widrigkeiten und sind gewillt, ihr Land, ihren Lebensunterhalt in «Plastikan» am Rande des riesigen Müllbergs von Manila zu verteidigen.