Er könnte sich auch anders beschäftigen. Zum Beispiel könnte er sich um die Reparaturen an seinem Haus in Florida kümmern, denn der letzte Sturm hat ihm zugesetzt. Doch Vince Pankoke beschäftigt im Moment vor allem eine Frage: Wer hat Anne Frank verraten?
Das sind die Fakten: Am 4. August 1944 nehmen Beamte der Gestapo Anne Frank und ihre Familie sowie eine befreundete Familie fest. Zwei Jahre lang hatte sich die Gruppe versteckt gehalten – im Hinterhaus eines Firmengebäudes in Amsterdam. Jetzt fliegen sie auf. Sie werden in Konzentrationslager gebracht: Anne Frank und die meisten Mitglieder ihrer Familie sterben.
Aber wer hat der Gestapo den Tipp gegeben? Das ist die grosse Frage. «Dieser Fall könnte der Höhepunkt meiner Karriere werden», ist Pankoke überzeugt.
Von symbolischer Bedeutung
Denn er sei anders als die Fälle, mit denen er im Laufe seiner 35-jährigen Ermittler-Karriere zu tun hatte – als er beispielsweise verdeckt in kolumbianischen Drogenkartellen ermittelte. Denn der Fall Anne Frank sei ein Symbol. Er stehe sinnbildlich für das Leid aller jüdischen Familien im Zweiten Weltkrieg. Familien, die sich verstecken mussten und schliesslich verraten und in Konzentrationslagern ermordet wurden. Die Gesellschaft sei es ihnen schuldig, sie nicht zu vergessen, sagt Pankoke.
Die Idee, den Fall aufzugreifen, hatte ursprünglich ein niederländischer Regisseur. Als er Pankoke als Leiter des Ermittlungsteams anfragt, sagt der sofort zu. Sein Team besteht aus 20 Personen: Ermittler, Historiker, Datenanalysten und ein Experte für Täterprofile.
Es ist die grösstmögliche Herausforderung für einen Ermittler wie mich.
Aber: Sie sind nicht die ersten, die versuchen, den Fall Anne Frank zu lösen. Zwei Mal schon hat die niederländische Polizei ermittelt. Erfolglos. Auch Journalisten und Schriftsteller haben es versucht. Ihre Theorien bleiben Theorien.
Vincent Pankoke hat also grossen Respekt: Es sei eine beängstigende Aufgabe, diesen 73 Jahre alten Fall aufzurollen. Viele Zeitzeugen seien tot, die Spuren erkaltet. «Es ist die grösstmögliche Herausforderung für einen Ermittler wie mich», erklärt der ehemalige FBI-Mann.
Anne Frank
Wo ist das letzte Puzzleteil?
Dennoch ist er zuversichtlich. Denn er und sein Team haben mehr Daten zur Verfügung als je ein Team vor ihnen. Darunter sogar Gestapo-Protokolle, die eigentlich als verschollen galten.
Polizeiberichte, Festnahmeprotokolle, Stammbäume. Diese riesige Datenmenge will das Team mithilfe von Big-Data-Analysten überprüfen. Der Computer, so die Hoffnung, wird ihnen Zusammenhänge aufzeigen, die von blossem Auge nicht zu sehen wären.
Das Team hofft auch, dass die Bevölkerung mithilft: Personen, die etwas wissen, sollen sich melden, heisst es in einem Aufruf. Hunderte Meldungen sind schon eingegangen. Möglicherweise sei ja hier der entscheidende Hinweis versteckt. Pankoke hofft, dass vielleicht in einer verstaubten Box in irgendeinem Schrank das entscheidende Dokument auftaucht. «Ein Brief, ein Foto oder ein Tagebuch könnte das letzte Puzzleteil in diesem Rätsel liefern», so Pankoke.
Wir wollen Anne Franks Andenken ehren, indem wir unser absolut Bestes geben.
In zwei Jahren will der ehemalige FBI-Ermittler die Ergebnisse präsentieren. Wichtiger als die Lösung des Falls ist ihm aber die Botschaft. Die Botschaft an potenzielle Kriminelle auf der ganzen Welt: «Wer Hassverbrechen begeht, dem wird hier gezeigt, dass es Menschen gibt, die nicht ruhen, bevor die Wahrheit über ihre Taten als Licht kommt.»
Bis dahin hat Pankoke die Opfer, Anne Frank und ihre Familie, fest im Blick: «Wir wollen ihr Andenken ehren, indem wir unser absolut Bestes geben.»