Das Land ist gespalten zwischen einem nach Europa blickenden Westen und einem auf Moskau fixierten Osten. Eine Situation die durch seine geografische Lage bedingt ist.
Auch wenn die Bilder der Gewalt aus Kiew dieser Woche dies vermuten lassen: Eine effektive Spaltung der Ukraine ist für Nada Boskovska, Geschichtsprofessorin an der Universität Zürich, nicht zu erwarten: «Das Land ist nicht in seinem Bestand gefährdet, solange nicht irgendwelche Faktoren in diese Richtung einwirken und eine Spaltung oder einen Zerfall unterstützen».
Es bestehe schon seit dem 19. Jahrhundert ein ukrainisches Nationalbewusstsein, sagt Osteuropa-Expertin Boskovska weiter in der Tagesschau. «Dieses hat sich seit der Unabhängigkeit 1991 noch stärker entwickelt, trotz Mentalitätsunterschieden.»
Es geht auch um wirtschaftliche Aspekte
Auslöser der Krise war vor allem die Frage, wie es mit der Ukraine wirtschaftlich weitergeht. Schliesst die Ukraine ein Abkommen mit der EU oder tritt sie der Zollunion mit Russland bei. Boskovska sieht taktische Fehler im Vorgehen der EU. «Die EU wollte mit dem Abkommen zu viel aufs Mal», sagt die Historikerin, «man müsste der Ukraine mehr Spielraum lassen».
Das Land verbindet eine über Jahrhunderte dauernde gemeinsame Geschichte mit Russland. «Das kann man nicht von heute auf morgen auflösen und die Ukraine in den Schoss Europas holen».
Die Ukraine, deren Name übersetzt Grenzland bedeutet, ist also hin- und hergerissen zwischen der EU und Russland. Unter Janukowitschs Vorgänger Viktor Juschtschenko, der 2005 bis 2010 Präsident war, wuchs die von einigen Oligarchen dominierte Wirtschaft kaum und machte nur wenige Fortschritte im Kampf gegen Korruption.
Janukowitschs Sieg 2010 und dem seiner Partei der Regionen bei der Parlamentswahl Ende 2012 folgten Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über Kredithilfen. Sie scheiterten, weil Janukowitsch die Forderungen nach unpopulären Wirtschaftsreformen nicht erfüllte.
Geplatztes Abkommen mit der EU als Auslöser
Viele Ukrainer sehen das Heil in einer Annäherung an die EU. Am 21. November liess Janukowitsch jedoch ein unterschriftsreifes Freihandels- und Assoziierungsabkommen mit der EU platzen.
Russland, wohin mehr als die Hälfte der ukrainischen Exporte gehen, hatte gedroht, die Grenzen zu schliessen, sollte die Ukraine das Abkommen unterzeichnen. Zehntausende Ukrainer protestierten gegen die Entscheidung des Präsidenten.
Die Opposition findet Unterstützung vor allem im Westen des Landes, wo Ukrainisch statt Russisch gesprochen wird, und in der enttäuschten städtischen Mittelschicht.
Der Westen und das Zentrum um die Hauptstadt Kiew stimmte bei den Präsidentschaftswahlen 2010 für Oppositionsführerin Julia Timoschenko. Der Osten und Süden grossmehrheitlich für Viktor Janukowitsch.
Janukowitschs Kehrtwenden
Nach der Absage an die EU sicherte sich Janukowitsch einen 15-Milliarden-Dollar-Kredit von Russland und niedrigere Gaspreise. Kritiker warfen ihm vor, damit das Land an Russland zu verkaufen.
EU und Russland wollen Einfluss
Letztlich geht es im Konflikt in der Ukraine um den Einfluss in einem Land, das wie eingeklemmt zwischen der EU und Russland liegt. Es geht um die Neuordnung Europas und die Macht Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991.
Der russische Präsident Wladimir Putin will nicht dulden, dass sein Einflussbereich noch weiter an den früheren Grenzen der Sowjetunion ausfranst – schon gar nicht nach der Erweiterung von EU und Nato gen Osten. Putin strebt eine eurasische Zollunion an, und nach seinem Verständnis gehört das «Grenzland» selbstverständlich dazu.
Für die Opposition beginnt nun die schwierige Aufgabe. Sie muss einen Weg finden, wie sich die Ukraine wirtschaftlich entwickeln kann. Und wie sie sich politisch zwischen den grossen Machtblöcken zwischen Ost und West positionieren will.
«Die Erwartungen im Volk an solche neuen Regierungen nach einer Umwälzung sind immer sehr hoch», sagt Historikerin Boskovska, «und werden dann oft enttäuscht». Doch auch werde gemäss der Historikerin lediglich eine Politik der kleinen Schritte und Kompromisse möglich sein.