Die Nomination Ursula von der Leyens als EU-Kommissionspräsidentin kam für viele überraschend. Denn eigentlich hätte einer der Spitzenkandidaten – Manfred Weber, Frans Timmermans oder Margarethe Vestager – das Rennen machen sollen. Stattdessen gab es ein langes Hin und Her. Das sei aber nicht das Ende des Spitzenkandidatensystems an sich, erklärt Daniel Gros von Center for European Studies in Brüssel.
SRF News: Mit der Nomination von der Leyens ist das Spitzenkandidatensystem gescheitert. Weshalb?
Daniel Gros: Es hat sich diesmal eine unglückliche Kombination aus einer Personalie ergeben, die nicht zu 100 Prozent überzeugt hat, und einem Wahlausgang, bei dem keine Partei richtig gewonnen hat. Deswegen ist schliesslich keiner der Spitzenkandidaten zum Zug gekommen.
Waren die Spitzenkandidaten nicht qualifiziert genug?
Das Problem war, dass der Kandidat, der ganz knapp die meisten Stimmen hatte – nämlich Manfred Weber – der schwächste von diesen drei Spitzenkandidaten war. Deswegen hat das System nicht gepasst. Weber hatte zwar leicht am meisten Stimmen, aber keine überzeugende Mehrheit. Deswegen kam er nicht zum Zug.
Anfang Woche gab es noch eine Mehrheit für Timmermans. Er scheiterte aber am Widerstand Ungarns und Polens. Folgte man nun deren Diktat?
In der EU kann man nicht über kleinere Länder hinwegsehen. Und wenn sich einige Länder zusammentun, können sie durchaus Entscheidungen blockieren. Timmermans hat sich im Kampf für die Rechtsstaatlichkeit profiliert. Aber er hat diese löbliche Aufgabe etwas zu stark politisiert.
Es gibt einen Unterschied zwischen einem Kommissionspräsidenten, der politisch gegen Populisten ist, und einem, der als neutrale Instanz über Rechtsstaatlichkeit walten sollte.
Denn es gibt einen Unterschied zwischen einem Kommissionspräsidenten, der politisch gegen Populisten ist, und einem, der als neutrale Instanz über Rechtsstaatlichkeit walten sollte. Diese beiden Aufgaben hat er vermischt.
Deutschland befürwortet das Spitzenkandidatensystem. Es mache die EU transparenter. Was ist an dem Argument dran?
Es ist ein Argument, welches zu Deutschland passt. Denn dort hat sich die Tradition durchgesetzt, dass die Partei, die den höchsten Stimmenanteil hat, selbst wenn es keine Mehrheit ist, das politische Recht hat, den Kanzlerkandidaten zu stellen. In Frankreich bestimmt dagegen einfach der Präsident, wo's langgeht, und welches System gelten soll.
Wenn sich die Parteienlandschaft weiter zersplittert, wird es schwierig.
Jedes Land denkt, so wie es bei mir ist, sollte es auch in Europa sein. Europa besteht aber aus vielen verschiedenen Ländern mit verschiedenen Traditionen, und jetzt mussten sich wieder einmal alle zusammenraufen.
Wird das Spitzenkandidatensystem nun grundsätzlich überdacht?
Nein. Das EU-Parlament wird versuchen, daran festzuhalten. Das wird aber entscheidend davon abhängen, ob es bei der nächsten Wahl einen klaren Sieger gibt. Wenn ja, kann das Spitzenkandidatensystem weiterleben. Wenn sich die Parteienlandschaft weiter zersplittert, wird es schwierig.
Kann man dem Chaos der letzten Tage auch etwas Gutes abgewinnen?
Das Gute daran ist, dass man doch zwei sehr kompetente Frauen gefunden hat, die die wichtigsten EU-Posten leiten. Okay, dem ging vielleicht ein gewisses Postengeschacher voraus. Aber letztlich haben wir dort zwei Frauen, die Europa gut vertreten können, wenn sie das mit Geschick tun.
Das Gespräch führte Roger Aebli.