Yvette Vaucher wohnt in einem Altersheim in der Stadt Genf, in einem winzigen Zimmer mit Balkon auf eine belebte und lärmige Strasse. Dabei liebt diese Frau die Stille der Natur und die Aussicht von den höchsten Berggipfeln der Welt. Ihre blauen Augen leuchten noch heute hell wenn sie von früher erzählt.
Am 13. Juli 1965 frühmorgens startete sie mit ihrem damaligen Ehemann und einem befreundeten Bergführer aus einer Berghütte. Vaucher wollte die Nordwand des Matterhorns besteigen, eine senkrechte, mehr als einen Kilometer hohe Wand, die über dem Dorf Zermatt majestätisch in die Höhe ragt. Das hatte vor ihr noch keine andere Frau geschafft.
Alpinismus war damals Männersache
«Es ging mir nicht um Ehrgeiz, sondern um eine persönliche Herausforderung», erzählt Vaucher. Einen Berg anzuschauen und den besten Weg nach oben zu wählen, dafür habe sie gelebt. Natürlich sei die Nordwand des Matterhorns schwieriger zu besteigen als die Normalroute, aber es sei ruhig. «Man ist alleine in der Wand. Niemand stört», erzählt die 86-Jährige.
Am ersten Tag erreichten Vaucher und ihre Begleiter den Gipfel nicht ganz. Sie mussten in der Felswand übernachten. Damals fand sie es unglaublich – sie als Frau – in dieser Nordwand des Matterhorns. Zu einer Zeit, in der der Alpinismus vor allem Männersache war. Schliesslich verband man damit Mut und Ausdauer, Eigenschaften, die damals nur den Männern zugesprochen wurden. Viele Frauen liessen sich trotzdem nicht beirren, auch Vaucher nicht.
Als einzige Frau erhielt sie die SAC-Ehrenmitgliedschaft
Sie kletterte alle wichtigen Nordwände der Alpen hoch – Dent Blanche, Eiger und eben das Matterhorn. Nur von schlechten männlichen Bergsteigern habe sie Neid gespürt – nicht aber von den guten, im Gegenteil. Sie sei leicht gewesen. Alle guten Bergsteiger hätten sie gerne in ihrer Seilschaft gehabt, sagt die 86-Jährige. Doch im kollektiven Gedächtnis sind Bergsteigerinnen wie Vaucher kaum präsent.
Wie auch. Denn bis 1979 waren Frauen vom Schweizer Alpenclub SAC ausgeschlossen. Heute macht der Frauenanteil im SAC zwar einen Drittel aus, trotzdem musste Vaucher lange warten, bis man ihre Taten würdigte. Erst 2011, vor vier Jahren, erhielt sie die Ehrenmitgliedschaft des Schweizer Alpen Clubs, als erste und einzige Frau bisher.
Sie sei glücklich über die Bezwingung der Nordwand
Yvette Vaucher betrachtet das eingerahmte Dokument an ihrer Wand im Altersheim in Genf. Sie sei stolz darauf. Nicht stolz, sondern glücklich, sei sie am 14. Juli vor 50 Jahren gewesen, als sie die Nordwand bezwang und auf dem Gipfel des Matterhorns stand. Nach stundenlangen Strapazen im Schatten habe ihr plötzlich die Sonne ins Gesicht geschienen, erzählt sie. Das sei aussergewöhnlich gewesen. In diesem Moment habe sie grosse Freude im Herzen verspürt.