Margrit Dobler und ihr Mann Franz sind erst auf den zweiten Blick ein ungewöhnliches Paar: Franz Dobler hat das Asperger-Syndrom und nimmt viele Dinge ganz anders wahr als seine Frau. Ein Gespräch über eine Beziehung, in der für einen der Partner Gefühle ein Rätsel sind.
SRF: Sie sind bereits seit 30 Jahren verheiratet. Wann ist Ihnen zum ersten Mal aufgefallen, dass Sie Dinge unterschiedlich wahrnehmen?
Margrit Dobler: Wir haben zum Beispiel den gleichen Zeitungsartikel gelesen, ihn aber völlig unterschiedlich verstanden. Oder wenn ich traurig oder sehr freudig war, kam das irgendwie nicht an bei ihm.
Menschen mit Autismus, dazu zählt auch das Asperger-Syndrom, haben Probleme, nichtverbale Signale richtig zu deuten. Wie ist das für Sie, wenn Sie Ihre Frau so hören?
Franz Dobler: Ich muss das so akzeptieren, wie sie es sagt. Ich kann mich in der jeweiligen Situation gar nicht dazu äussern, weil ich das nicht realisiere. Im Nachhinein kann ich dann schon zustimmen. Heute bin ich so weit, dass ich gelernt habe, nicht alles einfach zu verneinen und als Hirngespinste abzutun. Sondern es kann effektiv so gewesen sein.
Mein Mann hat gesagt: Ich weiss, ich sollte jetzt etwas fühlen, aber ich weiss nicht was. Das drückt sehr viel von der Zerrissenheit aus.
Margrit Dobler: Ich erinnere mich an eine Situation, wo ich wegen irgendetwas geweint habe. Da hat mein Mann gesagt: Ich weiss, ich sollte jetzt etwas fühlen, aber ich weiss nicht was. Das drückt sehr viel von seiner Zerrissenheit aus. Er weiss, er sollte Emotionen haben, hat aber keine Ahnung, welche.
In der jeweiligen Situation kommt also einfach keine direkte Reaktion zurück?
Margrit Dobler: Ja. Das war für mich manchmal nicht so einfach, weil ich das Gefühl hatte, es ist einfach eine Apathie, eine Gleichgültigkeit da. Das hat mich in Rage gebracht.
Das klingt nach viel Beziehungsarbeit.
Margrit Dobler: Mir ist zum Beispiel sehr wichtig, in einer Beziehung Zeit miteinander zu verbringen. Aber das versteht mein Mann nicht. Er ist beispielsweise im Büro oder Bastelraum – und sagt dann, ich bin ja da! Ich muss sehr klar, kurz und knackig formulieren, was genau ich will. Und ich muss viel die Initiative ergreifen, denn – und das ist bei vielen Menschen mit Asperger so – es kommt wenig von ihnen.
Ich hatte das Gefühl, ihm ist einfach alles gleich, wie eine Betonwand, durch die nichts dringt.
Ich muss auch viel Verantwortung übernehmen. Speziell als die Kinder klein waren, war das sehr schwierig. Ich bin mir vorgekommen wie eine alleinerziehende Witwe mit Ehemann. Denn durch seine Art der Wahrnehmung hat er nicht realisiert, wenn es mir oder einem der Kinder nicht gut gegangen ist. Das war für mich sehr stressig und ich habe mich einsam und allein gefühlt. Heute ist mir klar, warum das so war. Wenn ich das damals schon gewusst hätte, wäre es viel einfacher gewesen. So aber hatte ich das Gefühl, ihm ist einfach alles gleich, wie eine Betonwand, durch die nichts dringt. Und das hat natürlich Spannungen in der Beziehung gegeben, das ist klar.
Bei Ihnen, Herr Dobler, wurde Asperger ja erst vor wenigen Jahren diagnostiziert. Bis dahin wussten Sie beide nicht, warum manche Dinge so laufen, wie sie laufen. Haben Sie gemerkt, dass es für Ihre Frau zunehmend schwieriger wurde?
Franz Dobler: Die Antwort habe ich jetzt gerade vergessen – vorhin hätte ich sie noch gewusst. Das ist ganz typisch für mich: Der Ablauf des Denkens ist bei mir anders. Ich habe jetzt zugehört und dabei meine Antwort verloren. Es kommt zu viel auf einmal und ich kann es nicht mehr auseinanderhalten. Ich komme nicht mehr nach, weil ich überlege, was vorher gesagt wurde. Oder manchmal will ich auf etwas reagieren – aber wie will ich das noch einbringen, wenn schon viel Zeit vergangen ist?
Margrit Dobler: Das ist etwas, das häufig passiert. Ich sage oder frage etwas, und es kommt nichts. Dann warte ich einen Moment, und dann muss ich fragen: Hast du mich gehört? Ja! Dann kommt meistens wieder nichts. Dann frage ich: Hast du mich verstanden? Ja! Das heisst, mein Mann hat mich akustisch gehört und akustisch verstanden. Ob er es inhaltlich verstanden hat, weiss ich immer noch nicht. Und das ist schwierig, denn ständige Fragen mögen Menschen mit Asperger gar nicht gern. Aber von sich aus erzählen sie nichts.
Stand denn auch einmal eine Trennung im Raum?
Margrit Dobler: Ja, das war für mich mehr als einmal das Thema. Darum war ich auch so froh, als wir endlich eine Diagnose hatten und ich wusste, was der Grund für die Probleme ist.
Franz Dobler: Für mich war das nie eine Option. Obwohl ich wusste, wenn das kommt, kann ich nichts dagegen machen.
Nach der Diagnose mussten Sie viel über Ihren Mann neu lernen. Was ist heute anders als früher?
Margrit Dobler: Etwas, was viele nicht verstehen oder sie gar abstösst, ist, wie ich mit meinem Mann umgehe: Man muss sehr direktiv und klar sein. Das ist bei allen Menschen mit Asperger so, nicht nur bei meinem Mann. Wenn ich sage «könntest du …», dann sagt er «ja, das kann ich». Das heisst nur, dass er das beherrscht, nicht, dass er das auch macht.
Schwierig sind auch die langen Wege, die seine Antworten manchmal nehmen – mein Mann hat es ja vorhin angesprochen. Die Kommunikation ist dadurch viel viel langsamer.
Herr Dobler, Sie sind jetzt während des Gesprächs immer ruhiger geworden. Sind Interviews anstrengend für Sie?
Franz Dobler: Nur Zuhören nicht, aber wenn man immer Antworten geben muss, dann schon. Ich nehme ja alles auf. Aber wo ist es abgelegt? Vorhin, als meine Frau etwas gesagt hat, ist bei mir schon eine Antwort parat gewesen. Aber jetzt ist sie wieder weg, weil ich ihrer Antwort zugehört habe. Obwohl ich das schon x-mal durchdacht habe, kommt jetzt nichts mehr.
Das hat Sie, Frau Dobler, zunächst auf die Idee gebracht, es könne eine Demenz im Spiel sein.
Margrit Dobler: Ja, wir haben die Wortfindungsstörungen und die Vergesslichkeit meines Mannes abklären lassen und anfangs eher auf der Schiene Demenz gesucht. Alles in allem hat es zwölf Jahre gedauert, bis endlich klar war, dass es stattdessen Asperger ist. Dabei habe ich erlebt, wie einen Fachleute nicht ernst nehmen. Ich bin dann über Artikel zum Thema Asperger auf die Idee gekommen. Dann war alles klar.
Sind Sie froh, dass Sie jetzt Klarheit haben?
Franz Dobler: Ja. Aber wie froh, kann ich nicht sagen. Es stimmt, dass sich meine Frau gekümmert hat. Ich habe die Diagnose dann einfach akzeptiert. Die Frage, was das jetzt für mich bedeutet, kommt ja erst später. Da bin ich jetzt dran.
Margrit Dobler: Für mich war das sehr wichtig. Ich war kurz davor, mich selber abklären zu lassen, weil ich das Gefühl hatte, vielleicht stimmt mit mir selber etwas nicht. Auf der einen Seite war es eine Erleichterung, weil das Kind endlich einen Namen hatte und weder ich noch mein Mann schuld an den Problemen sind, die wir hatten. Und auf der anderen Seite war da auch Traurigkeit, dass da etwas ist, mit dem ich jetzt einfach leben muss.
Hätte sich für Sie vieles verändert, wenn Sie die Diagnose früher bekommen hätten?
Franz Dobler: Das kann ich nicht sagen und auch nicht, ob die Veränderungen zu mehr Zufriedenheit geführt hätten. Ich verändere mich schon. Aber es ist die Frage, ist das richtig oder nicht?
Schlussendlich müssen die Veränderungen ja vor allem für Sie selber stimmen.
Franz Dobler: Wenn man verheiratet ist und eine Familie hat, dann eben nicht – dann muss es nicht nur für einen selber stimmen. Für mich ist es das ständige Bemühen darum, das alles in Einklang zu bringen.
Das Gespräch führte Catherine Thommen.