Schon vor gut einem Vierteljahrhundert haben erste Studien gezeigt: Die Zahl der Spermien geht zurück. In welchem Ausmass, hat zuletzt eine Forschergruppe um Hagai Levine von der Hebrew University of Jerusalem herausgefunden (Studie in Englisch).
Von weltweit 7500 durchgeführten Studien, haben sie 185 ausgewertet und verglichen. Das Ergebnis: die Konzentration von Spermien pro Milliliter Samenflüssigkeit sank bei Männern aus Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland um durchschnittlich 52,4 Prozent. Die Gesamtzahl der Spermien pro Samenerguss sank im selben Zeitraum, zwischen 1973 und 2011, sogar um 59,3 Prozent.
Auch Schweizer Männer betroffen
Eine 2005 gestartete Schweizer Studie der Faber-Stiftung Lausanne, die jetzt an der Uni Genf weitergeführt wird, kam zu ähnlichen Erkenntnissen beim Schweizer Mann. Gemäss aktuellen Zahlen weist jeder Sechste signifikante Einschränkungen der Zeugungsfähigkeit auf. Die Spermienkonzentration befand sich erheblich unter Normallevel, oder es fanden sich kaum bis gar keine Spermien mehr.
«Laut WHO-Norm gelten 15 Millionen Spermien pro Milliliter Ejakulat als gut, um eine sehr grosse Chance zu haben, Papa zu werden», erläutert Dr. Fabien Murisier, der wissenschaftliche Direktor von Fertas, dem grössten Schweizer Zentrum für Reproduktionsmedizin in Lausanne. «Bei Personen mit weniger als 15 Millionen Spermien sind die Chancen bereits herabgesetzt.»
Bei Männern mit weniger als 15 Millionen Spermien pro Milliliter Ejakulat sind die Chancen bereits herabgesetzt, Vater zu werden.
Ein Teil der Schweizer Männern muss tatsächlich besorgt sein – etwa 10 Prozent haben eine niedrigere Spermienanzahl als erwartet. Manche deutlich niedriger als der Durchschnitt – bis gegen Null sogar. Und es werden mehr.
Ein bedenklicher Trend. Die Rufe nach mehr Ursachenforschung werden nicht nur unter Wissenschaftlern zahlreicher und lauter.
Hormonaktive Stoffe unter Verdacht
Seit Jahren wird zu den Ursachen vermutet und spekuliert. Geht es um mögliche Auslöser oder Verursacher werden dabei stets dieselben «Verdächtigen» genannt:
- Stress
- Rauchen (der einzige erwiesene Risikofaktor)
- Übergewicht
- Umwelt (Hormonaktive Stoffe)
Hormonaktive Stoffe – Chemikalien mit hormonähnlicher Wirkung – werden verdächtigt, einzeln und in der Mischung noch nicht bewiesenen Einfluss auf die männliche Fertilität zu haben, so auch die Spermienzahl zu beeinflussen.
Walter Lichtensteiger, ehemaliger Professor für Pharmakologie und Toxikologie an der Uni Zürich, forscht seit langem an der Wirkung von hormonaktiven Substanzen. «Die heutige Problematik mit dem Rückgang der Spermienzahlen ist mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit auf die hormonaktiven Stoffe zurückzuführen», bestätigt er. «Am Anfang war das sehr umstritten. Die Toxikologen haben überhaupt nicht dran geglaubt, es hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass da etwas dran ist.»
Männer mit besonders schlechter Spermienqualität und geringer Spermienzahl wiesen in der Schweizer Studie bei Urinuntersuchungen eine durchschnittlich um 30- bis 50-fach erhöhte Konzentrationen an Abbauprodukten von Weichmachern (Phtalaten) auf als bei Männern mit hoher Spermienzahl festgestellt wurde. Diese Beobachtung weist zwar keinen direkten Zusammenhang zwischen Spermienkonzentration und Schadstoffbelastung nach, ist aber ein Indiz dafür.
Ein endokriner Disruptor ist eine von aussen zugeführte Substanz oder Mischung, welche die Funktion des Hormonsystems verändert und dadurch zu nachteiligen Wirkungen auf die Gesundheit eines intakten Organismus, seiner Nachkommenschaft oder auf Ganze (Sub)-Populationen hat.
Schon im Mutterleib, wo frühzeitig der Geschlechtsapparat angelegt wird, könnten hormonaktive Stoffe ihre störende Wirkung entfalten, vermuten Wissenschaftler. Tierversuche bestätigen erste Erkenntnis diese Vermutung. Die rasche Zunahme an Hodenkrebsfällen in den letzten 30 Jahren ist ebenfalls ein Indiz dafür, dass hormonaktive Stoffe in der frühen Entwicklungsphase bereits negativen Einfluss ausüben.
Verdächtig, aber noch nicht überführt
Forschen, Stoffe verbieten, Trend stoppen? So einfach wird man dieses Problems leider nicht Herr werden.
«Das Problem ist, den Zusammenhang zwischen Chemikaliennutzung und Erkrankung zu beweisen», erklärt Anne-Laure Demierre, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundesamt für Gesundheit. Erst dann würde der Verbotsschritt folgen. Aber bei welchen Chemikalien fängt man an?
Das Problem ist, den Zusammenhang zwischen Chemikaliennutzung und Erkrankung zu beweisen. erst dann ist ein Verbot möglich.
Toxikologen wie Walter Lichtensteiger wissen um das Ausmass des Problems. «Die Gesamtzahl der Chemikalien, die in der Umwelt kursieren, schätzt man auf gut 80’000 – einige sagen 100’000. Von denen sind vermutlich einige tausend endokrin aktiv.» Viele sind bereits identifiziert worden, aber noch längst nicht alle.
Im Ergebnis des Nationalen Forschungsprogramms NFP 50, das zwischen 2000 und 2007 die Wirkung hormonaktiver Stoffe auf Mensch, Tier und Ökosystem in der Schweiz untersucht hat, hält der Abschlussbericht fest: «Dieses Ergebnis ist bedenklich.» Und meint die Erkenntnisse der Studie zum Spermienrückgang.
- Empfohlen wird: «Beachtet man das Gefahrenpotential von hormonaktiven Stoffen, gehen die Mitglieder der Konsensplattform einig, dass wissenschaftliche Unsicherheit nicht als Argument dienen darf, um risikoreduzierende Massnahmen zu verhindern.»
- Passiert ist: Einige wenige Chemikalien sind vom Bundesamt verboten worden. Einige hundert, wenn nicht tausende bleiben.
Das Problem ist ein weltweites, es ist komplex, es ist gross und Lösungen sind zeit- und kostenintensiv. Nicht zu bewältigen für einzelne Länder, sondern eine internationale Aufgabe. Die Schweiz arbeitet dabei eng mit der EU, der OECD, zusammen. Gemeinsame Regularien werden erarbeitet, gemeinsame Forschung wird betrieben und unterstützt. Nachhaltige Lösungen sind aber in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.
Das Dilemma ist oft: Man hat eine toxische Wirkung, aber auch grosses Interesse an einer bestimmten Substanz, zum Beispiel als Komponente von wichtigem Plastik. Soll man das jetzt verbieten oder nicht?
Alleine arbeiten, oder Stoffe provisorisch zu verbieten, das hält man beim Bundesamt für Gesundheit für wenig sinnvoll. Interessenskonflikte zum Thema toxische oder hormonaktive Stoffe verkomplizieren die Arbeit an Lösungen.
«Das Dilemma ist oft: Man hat eine toxische Wirkung, aber auch grosses Interesse an einer bestimmten Substanz, zum Beispiel als Komponente von wichtigem Plastik. Soll man das jetzt verbieten oder nicht verbieten?», weiss Walter Lichtensteiger, der seit fast 20 Jahren im Fachgremium der OECD ist.
Da kommt es zum Konflikt zwischen medizinisch-toxikologisches Interessen, jenen der Bevölkerung und jenen der Wirtschaft.
Besorgniserregend, aber kein Grund zur Panik
Was also, wenn sich der rasante Rückgang der Spermienzahlen fortsetzt? Wenn die Qualität der Spermien weiter abnimmt?
Fragen, die Männer heute und künftig beschäftigen. Ist das Problem der schwindenden Spermien aus wissenschaftlicher Sicht kritisch? Ab wann ist eingeschränkte Fruchtbarkeit kein privates Problem, sondern gesellschaftlich und politisch relevant?
«Wir werden nicht keine Kinder mehr in der Schweiz haben», beruhigt Fabien Murisier all jene, die durch die Schlagzeilen zum Thema Spermienschwund in Unruhe versetzt werden. «Es ist aber wahr, dass eine recht bedeutende Zahl von Paaren künftig kinderlos bleiben wird oder medizinischer Hilfe bedürfen wird. Das ist bedenklich und viele Paare leiden darunter.»
Wir werden nicht keine Kinder mehr in der Schweiz haben.
Wenn die Spermienzahl im Durchschnitt um 52 Prozent zurückgeht, sind manche gar nicht, andere dafür um so mehr betroffen. «Eine gewisse Zahl von Schweizer Männern muss tatsächlich besorgt sein. Wir sehen, dass etwa 10 Prozent der Bevölkerung eine niedrigere Spermienanzahl hat als man erwartet.» Bedenklich sei, dass unter ihnen Männer sind, deren Spermienzahl im Nullbereich liegt. Ihre Chance, ohne medizinische Unterstützung ein Kind zu zeugen, ist sehr gering.
Wer wissen will, ob die Zahl der lebenden Spermien hoch oder niedrig ist, kann sich inzwischen in der Schweiz einen «Do it yourself»-Test in der Apotheke kaufen. Für um die 50 Franken, lässt sich damit herausfinden, ob man zur Gruppe der bereits vom Spermienrückgang betroffenen Männer gehört und wird eher medizinische Hilfe suchen, wenn es mit dem Wunschbaby einfach nicht klappen will.