Nazmije Abazaj war 2019 als Beifahrerin mit einer Arbeitskollegin im Auto unterwegs. Plötzlich kam das Auto von der Strasse ab, die Kollegin fuhr aus ungeklärten Gründen frontal in eine Strassenlaterne.
Nazmije Abazaj verletzte sich schwer, ihren Job als Reinigungskraft musste sie deshalb aufgeben. Damit nicht genug: Den Antrag auf eine Invalidenrente lehnte die Unfallversicherung Suva ab.
Doch warum erhält die stark beeinträchtigte Frau keine IV-Rente? Der Grund liegt am sogenannten Invaliditätsgrad: Je höher dieser ist, desto grösser ist die Chance auf eine Invaliden-Rente.
Stark beeinträchtigt und trotzdem keine IV-Rente
Laut Suva konnte Nazmije Abazaj ohne unfallbedingte Einschränkung 49'821 Franken pro Jahr verdienen, mit unfallbedingten Einschränkungen soll sie aber plötzlich 52'780 Franken pro Jahr verdienen können. Die Konsequenz: Der IV-Grad beträgt 0 Prozent, sie hat kein Anrecht auf eine IV-Rente.
Wie kommt die Unfallversicherung Suva auf einen so hohen Lohn für eine ungelernte und körperlich stark eingeschränkte Frau? Sie nimmt die statistische Lohnerhebung des Bundesamtes für Statistik zur Hand und wählt im Fall Abazaj die Kategorie «tiefstes Kompetenzniveau».
Christian Haag ist der Anwalt von Nazmije Abazaj. Er kritisiert diese Berechnungsmethode: «Die Suva hält sich an die jahrzehntelange Bundesgerichts-Praxis, die statistische Löhne verwendet, um zu beurteilen, was eine gesundheitlich beeinträchtigte Person verdienen kann. Das Problem ist: Das sind Durchschnittslöhne, die wurden berechnet mit gesunden Personen, nicht mit invaliden Personen. Invalide Personen können nachweislich aber nie den Durchschnittslohn verdienen, den die statistischen Löhne abbilden. Deshalb resultieren bei der Berechnung des IV-Grads durchs Band zu tiefe Invaliditätsgrade.»
Die Suva nimmt zum Fall keine Stellung, da es sich um ein laufendes Verfahren handelt. Sie hält aber fest, dass «wenn nach einem Unfall die Gesundheit beeinträchtigt ist, noch immer (theoretisch) eine Hilfstätigkeit ausgeführt werden könnte, die körperlich weniger anspruchsvoll ist. Dabei kann fast das gleiche Einkommen erzielt werden, weshalb selten ein Invaliditätsgrad resultiert, der genug hoch ist, um Rentenleistungen zu erhalten. In einigen Fällen kann der theoretisch errechnete Lohn leicht höher sein.»
Praxis wird diesen Monat am Bundesgericht verhandelt
Anwalt Christian Haag kritisiert dieses Vorgehen: «Es darf nicht sein, dass unrealistische statistische Löhne verwendet werden, um den IV-Grad zu berechnen. Das ist unfair, diese Referenz-Löhne müssen gesenkt werden.» Deshalb zog er mit einem anderen Fall vor das Bundesgericht. «Die höchsten Richter müssen diese Praxis ändern und den Einsatz dieser absurden Löhne stoppen.» Der Fall wird am 9. März am Bundesgericht verhandelt.
Soziologe und Ökonom Jürg Guggisberg arbeitet für das renommierte Büro Bass und untersuchte die Tabellen-Löhne, die für die Berechnung des Invaliditätsgrads verwendet werden. Der Experte verglich sie mit Löhnen, die invalide Personen tatsächlich verdienen. Seine Untersuchung zeigte erstmals: Die für die Invaliditätsbemessung herangezogenen Tabellenlöhne sind im Durchschnitt 17 Prozent zu hoch.
Die Konsequenz: Laut Guggisberg erhalten heute viele Menschen eine zu tiefe oder gar keine IV-Rente: «Ich finde, dass das ein Systemfehler, in dieser Methode, und dieser sollte korrigiert werden, weil genau die, die den Zugang brauchen, sollten diesen erhalten, denn sie bezahlen auch für diese Versicherung ein.»