«1944», so heisst das Lied, mit welchem die ukrainische Sängerin Jamala den Eurovision-Songcontest (ESC) für sich entschied. Ein Titel also, der unweigerlich ein Jahr zum Thema macht. Und zu welchem die Krimtatarin ihren eigenen Bezug hat.
Das Lied handelt von der Vertreibung ihrer Minderheit, den Krimtataren, durch Stalin. Wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen hatte der sowjetische Diktator am 18. Mai 1944 die Angehörigen des Volkes innerhalb von zwei Tagen nach Zentralasien deportieren lassen.
Das ist Geschichte, passé – und doch erinnert das Leidenslied auch an den Krim-Konflikt.
Vorwurf der politischen Motivation
«Wir könnten eine Zukunft bilden, in der Menschen frei sind», singt Jamala etwa. Und liess damit den russischen Vertreter Sergey Lazarev mit «You Are The Only One» hinter sich. «Ich war mir sicher: Wenn man über die Wahrheit singt und spricht, berührt dies die Menschen», sagte ESC-Siegerin Jamala nach ihrem Sieg.
Zumindest die Reaktionen der politischen Spitze ihres Landes unterstreicht diese Aussage: «Unglaublicher Auftritt und Sieg! Die ganze Ukraine dankt dir von Herzen, Jamala!», twitterte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko.
Auch Aussenminister Pawel Klimkin betonte: «Die Wahrheit gewinnt immer, wie Jamala und die Ukraine heute Nacht. Gratulation und vielen Dank. Und nicht vergessen, die Krim gehört zur Ukraine.» Regierungschef Wladimir Groisman meinte: «Bravo, Jamala ist die Beste! Ich gratuliere sehr zum Sieg! Ruhm der Ukraine!»
Die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 wird im Lied nicht erwähnt. Doch liess der Vorwurf der politischen Motivation von russischer Abgeordneten nicht lange auf sich warten: Das Siegerlied sei kein Beitrag für den gesamteuropäischen Kulturdialog, den sich der Wettbewerb auf die Fahnen geschrieben habe, sagte Alexej Puschkow. Der ESC verwandele sich in ein politisches Schlachtfeld, fügte der Abgeordnete an.
Der Politiker Ruslan Balbek von der moskautreuen Führung der Halbinsel Krim sprach von einem «Ergebnis der antirussischen Politik». Der Westen habe das Votum des Publikums, das mehrheitlich für den russischen Kandidaten Lasarew gestimmt hatte, ignoriert und einer «ukrainischen Erpressung» nachgegeben.
Offiziell kein Verstoss gegen ESC-Regelwerk
Bereits nachdem Jamala die Vorentscheidung in der Ukraine für sich entschieden hatte, wurde die Frage aufgeworfen, ob der Song nicht zu politisch sei. Der russische Parlamentsabgeordnete Vadim Dengin kritisierte damals, die Ukraine beabsichtige mit der Wahl des Liedes, Russland zu verletzen.
Laut den ESC-Regeln sind Lieder, deren Text politisch ausgelegt werden kann, verboten. Anfang März 2016 bestätigte der Europäische Rundfunk jedoch, dass weder der Titel noch der Text auf einen politischen Hintergrund zurückzuführen sind und damit kein Regelverstoss vorliege.
Jamala als Friedensbotschafterin
ESC-Direktor Jon Ola Sand räumte auch nach dem Sieg Zweifel an der politischen Korrektheit aus dem Feld. Er zeigte sich überzeugt, dass der ESC 2017 wie üblich im Land des Vorjahressiegers stattfinden kann. An die ESC-Gewinnerin gerichtet, sagte Sand: «Ich bin mir sicher, dass du und die Menschen in der Ukraine uns willkommen heissen und sicherstellen werden, dass wir alle sicher sind.»
Zuvor übte sich Jamala schon einmal als Friedensbotschafterin. Als sie als Siegerin auf die Bühne zurückkehrte, sagte sie als erstes: «Ich möchte wirklich Liebe und Frieden für alle haben.»