Eine halbe Stunde Radio hören, das kann eine lange Zeit sein. «So viel Information! Ich kann mir nur einen Bruchteil merken.» Und überhaupt: «Was mich nicht interessiert, möchte ich skippen».
So klingt es, wenn Schülerinnen und Schüler der Medienunterrichtsklasse der Fachmittelschule Aarau eine halbe Stunde lang dem Programm des Informationsradios SRF4 News zuhören. Denn wer wissen will, wie Radio in zehn Jahren etwa klingen könnte, der fragt am besten das junge Publikum, was ihm gefällt. Und der Test im Klassenzimmer zeigt: das jetzige Programm tut es nicht so sehr.
Wer es gewohnt ist, sich sein Lieblingsprogramm selbst zusammenzustellen, zum Beispiel auf Streaming-Plattformen wie Netflix, der hat keine Geduld für Dinge, die ihn nicht interessieren. Das beobachtet auch Jakub Samochowiec. Er befasst sich am Gottlieb-Duttweiler-Institut mit der Medienzukunft. «Wer Sport nicht mag, will keine Sport-News. Dieses Publikum will ein Programm haben, das auf den einzelnen abgestimmt ist.»
«Millionen von UKW-Geräten kann man kübeln»
Bei solchen Ansprüchen kann ein herkömmliches Radio-Programm natürlich nicht mithalten. Erst recht nicht, wenn es durch ein herkömmliches Radiogerät gesendet wird, wie wir es heute kennen. Über kurz oder lang habe das Radiogerät deshalb ausgedient, sagt Samochowiec. «In der Küche der Zukunft gibt es wohl kein Radio mehr», vermutet er. Eher würden andere Geräte den Job übernehmen, uns zu informieren. «Wir werden uns dann vielleicht an unseren Kühlschrank wenden und ihm sagen: ‹Spiel mir die Nachrichten ab›.»
Es ist ein Szenario, das nicht allen gefällt. «Mir reicht es, wenn ich aus dem Kühlschrank ein Bier nehmen kann», sagt etwa Ernst Härri. Er ist Präsident des Clubs der Radio- und Grammophon-Sammler Schweiz. Dass das Radio allmählich aus unseren Haushalten verschwinden wird, glaubt aber auch er. Nicht nur wegen der sprechenden Kühlschränke. Im Jahr 2024 stellt der Bund die Ultrakurzwelle UKW ab. Für viele seiner Geräte ist das das Ende: «Millionen von UKW-Geräten kann man dann kübeln. Das gibt Berge von Elektroschrott.»
Heute hört das Publikum bereits 54 von 100 Radio-Minuten auf digitalem Weg – auf DAB+ oder via Live-Stream im Internet.
Die künstliche Intelligenz simuliert den Nachrichtensprecher
Bis uns unsere Kühlschränke Nachrichtenbeiträge vorlesen, die sie im Internet finden, könnte es gar nicht mehr so lange dauern. Schon heute können unsere Handys und Lautsprecher reden – dank Sprachassistenten wie Siri von Apple oder Alexa von Amazon. «Und das ist nur der Anfang», sagt Jürgen Schmidhuber. Er ist der Co-Direktor des IDSIA, des Instituts für Studien zur künstlichen Intelligenz.
«Eines Tages werden die Assistenten perfekte Butler sein. Butler, die genau wissen, welche Nachricht aus einer Million Nachrichten Ihnen am besten gefällt.» Vielleicht werde die künstliche Intelligenz gar einen Nachrichtensprecher simulieren: «Einen, der aussieht wie Ihr Lieblingsschauspieler. Oder einen, der noch viel besser aussieht als Ihr Lieblingsschauspieler.»
Ryan Gosling oder George Clooney lesen uns via Kühlschrank die Nachrichten vor: Das könnte die eine oder andere Nutzerin durchaus reizvoll finden.
Manche haben sich schon in die Cloud verabschiedet
Für die Journalistinnen und Journalisten ist die Vision aber eine Bewährungsprobe. Sie müssen ihren Platz in der Zukunft verteidigen. Im Vorteil ist, wer die Zeichen der Zeit richtig deutet. Peter Walt zum Beispiel: Der Journalist war bei Radio SRF jahrelang für die Sendung «Kosmos» verantwortlich. Jetzt produziert er in Eigenregie den Musik-Podcast «Walts Welt». Das kostet ihn fast nichts, beschert ihm aber Zehntausende Hörer pro Monat. Denn: Je individueller die Bedürfnisse der Hörer, umso beliebter sind auch Podcasts, die spezielle Interessen befriedigen.
«Radio hat sich immer schon gewandelt. Es ist flexibel» sagt Matthias Horx, der wohl meistzitierte Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum. Sich anzupassen, reiche aber nicht aus, sagt er. Ebenso sehr müsse sich das Radio auf seine Stärken besinnen. Zum Beispiel den «Standort-Vorteil»: Radio sei ein ideales Heimat-Medium. «Höre ich in den Verkehrsnachrichten, dass am Autobahnkreuz meiner Heimatstadt Stau ist, dann bin ich im Kopf sofort Zuhause». Das Radio überbringt dem Hörer die beruhigende Information: Die Welt ist immer noch dieselbe.
Überall daheim dank Radio
Dieses Gefühl der Verbundenheit suchen auch die beiden Ausland-Schweizer Priska Vanitchakul und Matthias Rast. Er wohnt in Den Haag, sie in Thailand. Und die beiden treuen SRF-4-News-Hörer möchten die Informationen aus der alten Heimat nicht missen. Sie wollen genau Bescheid wissen, zum Beispiel über anstehende Abstimmungsvorlagen. Selbst dann, wenn sie gar nicht abstimmen können – weil das Abstimmungscouvert wieder nicht rechtzeitig eingetroffen ist.
Wenn also in zehn Jahren tatsächlich Ryan Gosling frei ab Kühlschrank die Nachrichten vorliest, dann soll er das ruhig tun. Hauptsache, er widmet dem kommenden Abstimmungssonntag genügend Sendezeit.
«Das Publikum will zappen können»
SRF 4 News: In zehn Jahren: Stehen da noch Radios in Schweizer Küchen?
Jakub Samochowiec: Ich glaube nicht. Wir werden es wohl eher mit digitalen Assistenten zu tun haben, die in verschiedenen Geräten stecken. So dass wir dann in die Küche kommen und zum Beispiel zum Kühlschrank sagen können: Spiel mir jetzt bitte Nachrichten ab. Und dann wird er das tun.
Wie stellen Sie sich diese Kommunikation mit dem Kühlschrank konkret vor?
Ganz einfach – ich gebe den Befehl und das Gerät reagiert, indem es mir die Nachrichten vorspielt. Wenn mich währenddessen eine Nachricht nicht interessiert, werde ich das ebenfalls sagen – und das Programm wird sich entsprechend anpassen. Schon heute gibt es ja digitale Assistenten, die uns im Alltag unterstützen, Fragen beantworten zum Beispiel. Siri von Apple oder Alexa von Amazon – die werden in zehn Jahren noch viel mehr können.
Kann man überhaupt noch von Radio sprechen, wenn nicht mehr Radio-Wellen über ein Radio-Gerät gespielt werden – sondern Tonspuren über einen Kühlschrank?
Nein, ich glaube nicht. Dieser intelligente Assistent ist einfach eine gute Schnittstelle, die sich alle möglichen Inhalte und Formate aus dem Internet zusammensucht und zur Verfügung stellt. So ein Assistent wird ja nicht nur Tonspuren abspielen können, sondern auch eine Wetterkarte anzeigen oder einen Film abspielen. Die Tonspur wird dann eine von vielen Funktionen dieser Geräte sein – so wie unser Handy heute unter anderem auch telefonieren kann.
Und was für ein Publikum müssen wir uns vorstellen, im Jahr 2027?
Wir müssen uns nicht EIN Publikum vorstellen, sondern acht Millionen Publika – oder wie viele Einwohnerinnen und Einwohner es in der Schweiz in zehn Jahren auch immer geben wird. Jede Konsumentin, jeder Konsument wird ihre ganz persönliche Kombination von Medieninhalten haben wollen. Eine, die nicht dieselbe ist wie die des Nachbarn.
Aber ein paar Grundtendenzen muss es ja geben – was für Bedürfnisse haben diese Publika?
Wir können das grob in zwei Gruppen unterteilen: Das ältere und das jüngere Publikum. Ein Teil des älteren Publikums wird Medien immer noch gleich konsumieren wollen, wie es das heute tut. Die älteren Menschen werden nicht urplötzlich alle ihre Informationen auf Youtube zusammensuchen. Sie wollen weiterhin um halb acht den Fernseher einschalten, um die Tagesschau zu sehen. Sie schätzen die Struktur, die ihnen die Sendung gibt und sind loyal gegenüber dem Programm.
Was ist mit dem jüngeren Publikum?
Dieses Publikum hat wenig Geduld für Dinge, für die es sich nicht interessiert. Wer keinen Sport mag, der will auch keine Sport-News hören und warten, bis endlich das Wetter kommt. Dieses Publikum will Inhalte, mit denen es etwas anfangen kann. Es will zappen können.
Wie bei der Streamingplattform Netflix: Spulen und überspringen, sobald etwas nicht passt?
Genau. Gewisse Hörsituationen sind heute halt rar geworden. Früher hat man sich die neue Beatles-Platte gekauft und seine Freunde um den Plattenspieler versammelt und das Album bis zum Ende durchgehört. Vielleicht hatten die Leute damals eine andere Aufmerksamkeitsspanne. Vielleicht waren auch nur ihre die Möglichkeiten beschränkt: Sie konnten nicht einfach im Handumdrehen etwas anderes hören. Heute ist das anders. Uns steht ein riesiges Angebot an Medien zur Auswahl, die alle nur einen Klick entfernt sind.
Was bedeutet das für die Anbieter – was müssen sie tun, um ihr Publikum zufriedenzustellen?
Sie müssen mit dem Publikum zusammenarbeiten. Das bedeutet auch, dass sie einen Teil ihrer Macht mit dem Publikum teilen. Es ist ein aktives Publikum, das mitmachen will. Oft spricht man von Prosumenten, also von Konsumenten, die selbst auch produktiv sind. Jeder kann selbst eine Radio-Show machen, mit einfachsten Mitteln. Jeder kann seine Meinung im Netz hinterlassen. Medienanbieter werden gut daran tun, dieses Potenzial zu nutzen. Im Falle von Schweizer Radio und Fernsehen SRF könnte Service Public künftig heissen: In Absprache mit dem Publikum herauszufinden, wie das Programm aussehen soll.
Müssen die Medienmacher Angst haben vor dieser Zukunft?
Nur die, die Angst davor haben, einen Teil der Macht abzugeben.
Das Gespräch führte Hanna Jordi