- Die moderne Medizin hat auch gegen schwere Krankheiten zahlreiche gute Therapien im Köcher. Doch diese allein scheinen Patienten nicht zu reichen.
- Gerade chronisch Kranke oder Krebspatienten suchen deshalb in der Komplementärmedizin nach Unterstützung, nicht selten auf eigene Faust.
Acht Jahre ist es bereits her, dass Schweizerinnen und Schweizer ein deutliches Zeichen setzten: 2009 sprachen sie sich mehrheitlich für eine Aufnahme komplementärmedizinischer Methoden in die Grundversicherung aus. Anthroposophische Medizin, Traditionelle Chinesische Medizin, Phytotherapie, Homöopathie und Neuraltherapie sind seitdem im Leistungskatalog der Krankenkassen erfasst. Der Bundesrat will noch in diesem Jahr darüber entscheiden, ob die erstgenannten vier Methoden dauerhaft integriert bleiben.
Moderne Methoden sind unverzichtbar
Das Interesse an sanfter Medizin ist gross, das Bedürfnis danach ebenfalls. Eine US-Studie aus dem Jahr 2007 zeigte, dass 55 Prozent der Schmerzpatienten Hilfe in komplementären Therapien suchen, ebenso viele der Patienten mit Atemnot und mehr als jeder Dritte, der an krankheits- oder therapiebedingter Müdigkeit und Erschöpfung leidet.
Fakt ist: Die klassische Medizin hat viel zu bieten, meist könnte man deswegen auf komplementäre Angebote gut verzichten, zumal deren Wirksamkeit in vielen Fällen nicht oder nicht wirklich überzeugend belegt ist. Beispiel Krebs: Tumorleiden fordern das gesamte Arsenal der modernen Medizin. Nur diese modernen Methoden haben ausreichend Schlagkraft, um Krebs im Zaum zu halten oder gar auszumerzen.
Patienten fühlen sich in der Hightechmedizin häufig ausgeliefert.
Doch das hat seinen Preis. Noch versetzen die Therapien den ganzen Körper in Ausnahmezustand. Noch machen sie nicht nur Krebszellen den Garaus, sondern auch anderen Zellen im Körper. Nebenwirkungen, zum Teil gravierende, sind die Folgen.
Dass alle medizinischen Register gezogen werden, erleben viele Patienten nicht nur als Segen, sondern auch als kompletten Kontrollverlust. Das erlebt auch Onkologe Marc Schlaeppi so – mit ein Grund, warum er nicht nur Schulmediziner ist, sondern auch einen Fähigkeitsausweis in anthroposophisch erweiterter Medizin hat. «Patienten fühlen sich in der Hightechmedizin häufig ausgeliefert. Sie werden operiert, bestrahlt, bekommen Chemotherapien. Das alles ist für sie sehr passiv. Sie würden gerne eine aktivere Rolle für ihre Gesundheit spielen», sagt er.
Erfolg ist, wenn sich der Patient wohlfühlt
Patienten, die dann beispielsweise Entspannungstechniken – auch sie sind Teil der Komplementärmedizin – erlernen, profitieren stark. Stress und Angst können so vergleichbar gut gesenkt werden wie mit dem Beruhigungsmedikament Xanax, zeigte eine Studie. Wenn die Medizin an ihre Grenzen stösst, gewinnen Aspekte des Wohlbefindens zusätzlich an Gewicht. «Dann geht es darum: Gibt es Möglichkeiten, die Therapien besser zu vertragen oder mit der Situation besser umzugehen? Da ist es doch eine vernünftige Reaktion, dass sich die Leute überlegen, was es sonst noch so gibt, das ihnen helfen könnte», sagt Thomas Cerny, Chefarzt an der Klinik für Onkologie des Kantonsspitals St. Gallen.
Die schulmedizinischen Ansätze sind immer eher defizitorientiert.
Den Patienten kommt besonders entgegen, dass bei den komplementären Methoden der Mensch in den Fokus rückt – zugegebenermassen, weil auch die beste Musiktherapie oder Akupunktur der Welt keinen Lungenkrebs zu heilen vermag. Der Fokus der Therapie kann sich deswegen weg von der Krankheit hin zum Menschen als Ganzes verschieben. Erfolg ist dann nicht nur, wenn sich der Tumor zurückbildet, sondern auch, wenn es dem Menschen gut geht dabei – psychisch und physisch.
Und so greifen weltweit 47 Prozent der Krebskranken auf komplementäre Methoden zurück. Andere Studien aus den USA gehen gar je nach Krebsart von bis zu 80 Prozent aus. Den grössten Zuspruch erfahren die Methoden unter Brustkrebspatientinnen wie Heidi Sutter, die selbst vor drei Jahren die Diagnose erhielt und neben den konventionellen Therapien auch komplementärmedizinisch behandelt wurde. «Die schulmedizinischen Ansätze sind immer eher defizitorientiert. Hier werden viel mehr meine Ressourcen gestärkt», erklärt sie.
Die Frage, inwieweit Krankenkassen Therapien bezahlen sollten, die Patienten erfahrungsgemäss helfen, deren Wirkung aber nicht wissenschaftlich belegt ist, steht ihm Raum. Dennoch nehmen erste Spitäler das steigende Bedürfnis ernst und bieten im eigenen Rahmen ergänzend zur schulmedizinischen auch komplementäre Therapien an. Denn laut Studien machen 60 Prozent der Krebspatienten komplementäre Therapien auf eigene Faust, oftmals sogar ohne ihre Ärzte darüber zu informieren – ein Umstand, der auch gefährlich werden kann – Stichwort Wechselwirkungen. Diese Gefahr lässt sich nur umgehen, indem die Offenheit der Ärzte für die Komplementärmedizin in gleichem Mass zunimmt wie das Bedürfnis ihrer Patienten danach.