Sagen und Märchen stehen an diesem Wochenende in Chur im Zentrum. An den ersten Alpensagen und Märchentagen trifft Märchenerzählkunst auf die Wissenschaft. Unter anderem wird auch der Schweizer Märchenpreis der Märchenstiftung Mutabor verliehen. In diesem Jahr erhält ihn die in Chur wohnhafte Volkskundlerin Ursula Brunold-Bigler. Ausgezeichnet wird sie für ihre intensive Forschungstätigkeit im Rahmen der Schweizer Märchenkultur, heisst es in der Begründung der Stiftung.
SRF News: Seit Jahrzehnten forschen sie zu Märchen, was fasziniert sie daran?
Ursula Brunold-Bigler: Es fasziniert mich zu einem Teil, zu einem andern aber auch nicht. Ich habe immer eine gewisse Distanz zu meinem Forschungsgegenstand. Bin ich zu begeistert, dann kann ich nicht mehr darüber nachdenken.
Märchen funktionieren auf verschiedenen Ebenen, was verraten sie uns über die Kultur?
Sie erzählen ganze Weltbilder. Beispielsweise die damalige Sicht auf das Tier oder auf die Grausamkeit, die Gewalt.
Seit 30 Jahren erforschen sie sehr intensiv Bündner Märchen und Sagen. Wenn man von Bündner Märchen spricht, dann sind das in den allermeisten Fällen Rätoromanische Geschichten, warum ist das so?
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine Rätoromanische Sprach- und Kulturerneuerungsbewegung. Man wollte Sprache und Kulturdenkmäler vor dem Vergessen und dem Untergang bewahren. Man sah die Rätoromanische Kultur durch die Erschliessung der Täler und den Tourismus bedroht. Deshalb hat man angefangen diese Märchen aufzuschreiben und vor dem Vergessen zu bewahren. In Deutsch- und Italienischbünden gab es das nicht.
Sind diese Märchen in der Rumantschia entstanden, wurden sie hier vor Ort geschrieben?
Nein, die sind sicher nicht hier entstanden. Die Leute sind ausgewandert nach Italien, Frankreich oder gar nach Russland und haben dort Märchen gehört, diese haben sie nach Hause gebracht. Oder aber sie hatten ein altes Märchenbuch und hatten die Geschichten von dort. Die Märchen wurden aber hier abgeändert und quasi eingepasst in die eigene Umwelt. Das war aber nicht einfach nachplappern, sondern ein kreativer Umgang mit einem Stoff.
Haben sie eigentlich ein Lieblingsmärchen aus Graubünden?
Es ist noch schwierig mich da festzulegen. Eines das mir gefällt ist das Märchen vom Halbling. Wie der vom Teufel verstümmelte Mensch mit Hilfe eines Zauberfisches wieder Beine bekommt. Wie dieser Mensch, der an den Rand der Gesellschaft gedrückt wird, schlussendlich wieder König wird, das gefällt mir sehr.