Es war ein Meilenstein für das Bündner Kantonsgericht. Seit Anfang 2017 arbeiten am Kantonsgericht sechs Richter und Richterinnen, zuvor waren es fünf. Erklärtes Ziel dieser Aufstockung war, die Zahl der hängigen Fälle zu reduzieren. Das ist bisher nicht gelungen.
Teilweise müssen Betroffene noch immer jahrelang auf einen Entscheid warten, das zeigt der Blick in die Statistik. «Die stetige Zunahme der Pendenzen in den letzten Jahren bereitet dem Kantonsgericht Sorgen», schreibt Gerichtspräsident Norbert Brunner auf Anfrage.
Die aktuellsten Zahlen stammen von Ende 2017. Damals waren 267 Fälle pendent – fast gleich viel wie im Vorjahr, als 270 Fälle hängig waren. Trotz eines neuen Richters wurde der Pendenzenberg also nicht abgetragen.
«Das ist unhaltbar»
Markus Blechner aus Flims steckt mitten in einer Scheidung. Sein Fall ist einer auf dem Pendenzenberg. Der 77-Jährige streitet mit seiner Ex-Frau um Geld. Es gehe um mehrere 100'000 Franken. Seit bald zweieinhalb Jahren soll das Kantonsgericht klären, wer wieviel davon bekommt.
Wir sind nun zuversichtlich, dass unsere Pechsträhne im neuen Jahr ein Ende findet.
Für den Pensionär hat das lange Warten finanzielle Folgen: «Wenn mir Freunde nicht helfen würden mich über Wasser zu halten, müsste ich wahrscheinlich Konkurs erklären». Er beziehe eine AHV und sei auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Es gehe nicht vorwärts, sagt Blechner: «Das ist unhaltbar».
Ende 2016 reichte Markus Blechner seine Berufung beim Kantonsgericht ein, weil er mit dem Entscheid des Regionalgerichts nicht einverstanden war. Über ein Jahr später, im Frühling 2018, klopfte sein Anwalt beim Kantonsgericht an und wollte wissen, bis wann das Urteil zu erwarten sei.
Fall blieb über ein Jahr liegen
Es werde wohl die zweite Hälfte des laufenden Jahres, schreibt die zuständige Richterin. «Ich bedauere die Verzögerung ausserordentlich». Sie sei wegen eines Skiunfalls länger ausgefallen.
«Zugunsten des Abbaus zahlreicher älterer Pendenzen musste ich daher die Bearbeitung der neu eingegangenen Fälle zurückstellen», schrieb die Richterin weiter. Die zeitlichen Angaben des Kantonsgerichts zum Fall bestätigen, dass der Fall von Markus Blechner über ein Jahr liegen blieb. Zwei Monate nach dem Brief des Anwalts übernahm ein neuer Richter den Fall.
«Strukturelle und persönliche Gründe»
Präsident des Bündner Kantonsgerichts ist Norbert Brunner. Die Zahl der hängigen Fälle habe wegen «strukturellen und persönlichen Gründen» nicht abgenommen, erklärt er in einer ausführlichen Stellungnahme. Der Skiunfall der Richterin sei einer dieser persönlichen Gründe. Dann sei eine Gerichtsschreiberin während eines Jahres ausgefallen. Dazu kamen mehrere Wechsel, «welche immer wieder einen Erfahrungsverlust verursachten».
Der Kanton Graubünden muss dafür sorgen, dass genügend Richter angestellt sind.
Für den Gerichtspräsidenten ist es strukturell problematisch, dass Verfahren grundsätzlich aufwändiger seien als früher. Seit ein paar Jahren müsse das Kantonsgericht unter anderem jedes Urteil schriftlich begründen. Hinzu kämen neue Aufgaben. So müsse das Gericht alle Beschwerden beim Kinder- und Erwachsenenschutz beurteilen. Genau deshalb habe das Kantonsgericht beim Grossen Rat eine zusätzliche Richterstelle beantragt.
Mehr Richter, weniger hängige Fälle?
Bei der Frage, ob das Kantonsgericht zusätzliche Richter und Richterinnen benötigt, winkt Brunner ab. Die heutige Zahl der Stellen sollte bei einem Normalbetrieb reichen, lautet seine Einschätzung. Und: «Wir sind nun zuversichtlich, dass unsere Pechsträhne im neuen Jahr ein Ende findet und wir einen Weg finden, die Verfahrensdauer und die Pendenzen zu verringern».
Es sei in der heutigen Zeit eine Zumutung, sagt auf der anderen Seite der heute 77-jährige Markus Blechner: «Der Kanton Graubünden muss dafür sorgen, dass genügend Richter angestellt sind, damit die Fälle speditiv abgearbeitet werden».
Für Blechner könnte das Warten bald ein Ende haben. Gerichtspräsident Norbert Brunner hat gegenüber dem Regionaljournal angekündigt, dass dessen Entscheid noch diesen Monat versendet werde.
SRF 1, Regionaljournal Graubünden, 06:32 Uhr