Die Schulen sind geschlossen, das öffentliche Leben stark eingeschränkt, die Spitäler suchen Freiwillige, um den Ansturm von Patienten bewältigen zu können. Was nach einer Beschreibung der Zustände im Corona-Frühling 2020 klingt, passt auch für den Sommer und den Herbst 1918. Damals grassierte die Spanische Grippe – die letzte grosse Pandemie, von der die Schweiz betroffen war.
Zentralschweiz war besonders stark betroffen
Ihre Folgen waren verheerend: Schweizweit starben gegen 25'000 Menschen. Besonders viele Todesopfer forderte die Krankheit in der Zentralschweiz, vor allem in den Kantonen Obwalden, Uri und Zug. «Die täglichen Meldungen von Neuerkrankungen und Todesfällen, das ist vergleichbar mit der Corona-Krise von heute», sagt Patrick Kury, Professor für Geschichte an der Universität Luzern. «Auch die Verunsicherung der Menschen war gleich wie heute.»
Die Spanische Grippe gelangte aus den USA nach Europa, mit Soldaten, die im Ersten Weltkrieg in Frankreich kämpften. Sie verbreitete sich schnell über den ganzen Kontinent, allerdings verschwiegen die Krieg führenden Länder die rätselhaften Todesfälle – nur im neutralen Spanien, wo es keine Pressezensur gab, berichteten die Zeitungen darüber; so kam die Grippe zu ihrem Namen.
Risikogruppe: Junge, gesunde Männer vom Land
Anders als das neuartige Corona-Virus, das hauptsächlich für die ältere Bevölkerung eine Gefahr darstellt, erkrankten an der Spanischen Grippe vor allem Menschen zwischen 20 und 25 Jahren, in der Mehrheit Männer. «Die vitalste Bevölkerungsgruppe war am stärksten betroffen», sagt Patrick Kury.
Zudem habe die Grippe ihre Opfer weniger in den Städten mit ihrer teilweise angespannten Versorgungslage gefordert, sondern vor allem in den ländlichen Gebieten, wo die Menschen tendenziell besser genährt gewesen seien. «Warum das so war, lässt sich nicht beantworten», sagt Kury. «Aber es ist eine Erklärung, weshalb die ländlich geprägten Gebiete der Zentralschweiz besonders stark unter der Spanischen Grippe litten.»
Die Behörden reagierten schleppend
Nicht nur die Risikogruppe war damals eine andere als heute – auch die Reaktion der Behörden sah 1918 anders aus. «In der heutigen Krise haben wir einen Staat, der rasch und gut agiert, das war damals nicht der Fall», sagt Historiker Patrick Kury. Die Behörden hätten viel Zeit verstreichen lassen – und als sie handelten, sei dies viel zu unkoordiniert geschehen: «Es gab einen Wildwuchs an kantonalen Regelungen, die sich teilweise widersprachen. Einzelne Kantone erliessen ein Versammlungsverbot, andere nicht. Die einen schlossen die Restaurants, die anderen schränkten nur die Öffnungszeiten ein.»
Vor allem in der Unterschicht sei die Wut auf die Behörden und ihr zögerliches Handeln stark gewesen. Denn das Leben war auch ohne die Grippe schon schwierig genug. «Man darf nicht vergessen, dass in Europa Krieg herrschte und die Versorgungssituation angespannt war, es gab Hunger in der Schweiz», sagt Historiker Kury.
Zudem gab es kein ausgebautes Sozialsystem, und der Staat hatte nicht die finanziellen Möglichkeiten wie heute, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern: «Die Instrumente und Institutionen, die wir heute haben, um der Corona-Krise zu begegnen, gab es damals noch nicht, die entstanden erst.»
Die Voraussetzungen sind 2020 besser als 1918
Wir hätten heute daher die besseren Voraussetzungen, um der gegenwärtigen Krise zu begegnen, sagt Patrick Kury. Vor allem auch, weil das medizinische Wissen grösser sei als 1918, und es – im Gegensatz zu damals – eine internationale Zusammenarbeit gebe. Aber, so Historiker Kury: «Es ist noch keine Garantie, dass wir die Krise unbeschadet überstehen. Das ist abhängig davon, wie lange der gegenwärtige Zustand andauert.»