SRF News: Wie ist dieser uralte Zürcher Brauch der Neujahrsblätter entstanden?
Max Schultheiss: Es war seit dem Mittelalter üblich, dass die Gesellschafter einer Trinkstube bei Jahresanfang zur Beheizung ihres Lokals beitrugen. Sie schickten für dieses «Stubenhitzen» jeweils ihre Kinder mit Holz oder einem Geldbetrag ins Lokal. Diese wurden dafür mit Getränken oder Süssigkeiten belohnt.1645 stoppte die Burgerbibliothek diese Art des Belohnens. Sie gab den Kindern erstmals kleine Schriften mit nach Hause, meist einfache Kupferstiche, ein Bild mit erzieherischem Inhalt. Diese Einblattdrucke für Kinder entwickelten sich dann im Laufe der Zeit zu den Zürcher Neujahrsblättern für Erwachsene.
Wer waren und sind die Verleger dieser ausgebauten Form der Neujahrsblätter?
Ich mache ein Beispiel: Die «Gesellschaft der Chorherren», das waren ursprünglich Pfärrer aus dem Grossmünsterstift. Bis 1832 gaben sie ein Neujahrsblatt heraus. Als 1833 die Zürcher Universität gegründet wurde, schlossen sich die Pfärrer mit Wissenschaftlern zusammen und führten die Tradition fort. Heute ist dies die «Gelehrte Gesellschaft». Sie umfasst genau vierzig Leute aus allen möglichen Wissenschaften, vom Archäologen bis zum Physiker. Unter ihnen wird ausgelost, wer einen Text für ein Neujahrsblatt schreibt.
Bei der Themenwahl sind die Autorinnen und Autoren dann völlig frei. Was waren denn beliebte Sujets über die Jahre?
Das kann tatsächlich alles sein. Im letzten Jahr wählte die «Gelehrte Gesellschaft», um bei diesem Beispiel zu bleiben, das Thema Röntgen und Computertomographie. Das Thema hat sehr oft einen Bezug zu Zürich. Auch die Aktualität variiert: Um 1990, zu Zeiten der offenen Drogenszene also, erschien ein Neujahrsblatt zum Thema «Psychiatrie, Psychopharmaka und Drogen in Zürich».
Das Gespräch führte Vera Deragisch.