Sie kennt ihre Kunden beim Namen. Audrey Mühlethaler arbeitet Teilzeit in einem Dorfladen im jurassischen Courgenay. «In den kleinen Läden hat man die Atmosphäre. Es ist weniger wie am Fliessband wie bei den Grossverteilern», sagt sie. Allerdings liegen hier die Löhne deutlich tiefer: 3500 Franken verdient Mühlethaler im Monat, gerechnet auf eine Vollzeitstelle. Mehr Lohn? Das wäre willkommen, sagt sie lachend. Aber man könne nicht alles haben.
Dorfladen: Zahl der Angestellten reduzieren
So sieht das auch ihr Chef. Der selbständige Ladenbesitzer Antoine Messerli beschäftigt fünf Teilzeitangestellte. 4000 Franken? «Das wäre erfreulich für die Angestellten. Ein gute Sache», meint er, um dann etwas nachdenklich anzufügen: «Aber für mich als Chef?» Das würde einige Schwierigkeiten für ihn bedeuten. «Wenn ich die Löhne auf das geforderte Niveau der Initiative zu erhöhen hätte, müsste ich die Zahl der Angestellten reduzieren.» Sein Dorfladen könne nicht auf grosse Margen zählen.
Biobauer: Gemüsepreise erhöhen
Flinke Finger trennen eine Lauchstange nach der anderen von Wurzel und Dreck. Im frostigen Lagerraum des Biohofs in Sédeilles im Kanton Waadt packt auch der Patron Urs Gfeller mit an. Der Kanton hat für die Landwirtschaft einen Minimallohn von 3320 Franken festgesetzt – bei einer 50 Stundenwoche. So sollen Dumpinglöhne verhindert werden.
Auf eine normale 42-Stunden-Woche gerechnet sind das gerade einmal 2790 Franken im Monat. Rund 1200 Franken – oder ein Drittel höher – läge der geforderte Mindestlohn. Für Gfeller ist klar: Um die Löhne erhöhen zu können, müssten die Konsumenten bereit sein, mehr für das Gemüse zu bezahlen – vor allem im Bio-Landbau. «Wir haben zum Beispiel bei Kulturen wie Rüebli mehr Aufwand, weil wir viel mehr jäten müssen als ein konventioneller Betrieb, der einfach Herbizide spritzen kann», verdeutlicht Urs Gfeller. «Das gibt bei uns gegen 800 Stunden pro Hektar. Die Lohnkosten wirken sich da natürlich direkt aus.»
Auf der anderen Seite: die Argumentation des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, der sich für einen Mindestlohn von 4000 Franken stark macht. Dessen Chefökonom Daniel Lampart streicht heraus, dass mehr als 300'000 Personen in der Schweiz so wenig verdienten, dass sie damit kaum über die Runden kämen. Diesem «Tieflohn-Problem» müsse mit der Mindestlohn-Initiative begegnet werden.
Einkommen variieren stark
Arbeitgeber wie Antoine Messerli und Urs Gfeller kritisieren: Ein einheitlicher Mindestlohn würde die regionalen Differenzen in der Schweiz missachten. Und diese sind erheblich. 7461 Franken versus 6129 Franken Einkommen – ob man seinen Lebensunterhalt im Raum Zürich oder im Tessin bestreitet, macht durchschnittlich mehr als 1000 Franken Unterschied. Selbstredend sind auch die Lebenshaltungskosten nicht dieselben. Unter dem Strich bleibt Arbeitnehmern in Zürich, der Zentralschweiz und der Nordwestschweiz aber dennoch am Monatsende mehr in der Tasche.
Schweiz hätte weltweit höchsten Mindestlohn – auch relativ
Würde die Schweiz einen gesetzlichen Mindestlohn von 4000 Franken bzw. 22 Franken pro Stunde einführen, so wäre sie nicht nur das europäische Land mit dem absolut höchsten Mindestlohn; sie hätte auch relativ gesehen eine Untergrenze, die ihresgleichen sucht: Im Verhältnis zum Medianlohn des Landes – der im Falle der Schweiz 5976 Franken beträgt – läge der Mindestlohn bei 67 Prozent.
Europäische Länder mit gesetzlichem Mindestlohn
Stundenlohn (in Euro) | In Prozent des Medianlohns | |
---|---|---|
Luxemburg | 11,10 | 42 |
Frankreich | 9,43 | 60 |
Belgien | 9,10 | 50 |
Niederlande | 9,07 | 48 |
Irland | 8,65 | 48 |
Grossbritannien | 7,78 | 48 |
Slowenien | 4,53 | 58 |
Malta | 4,06 | k.D. |
Spanien | 3,91 | 44 |
Griechenland | 3,35 | 51 |
Portugal | 2,92 | 57 |
Polen | 2,21 | 45 |
Tschechien | 2,01 | 35 |
Ungarn | 1,97 | 50 |
Slowakei | 1,94 | 46 |
Estland | 1,90 | 39 |
Litauen | 1,76 | 48 |
Lettland | 1,71 | 57 |
Rumänien | 1,06 | 48 |
Bulgarien | 0,95 | k.D. |
Forderungen in der Schweiz und in Deutschland | ||
Deutschland | 8,50 | 52 |
Schweiz | 17,86 (22 Fr.) | 67 |
Quellen: | Hans-Böckler-Stiftung, BFS |