Oberhalb von Kandersteg, hoch über dem Berner Oberländer Dorf thronen Felsen. Die Zacken werden «Spitze Stei» genannt. Das Problem: Das Felsgebiet rutscht ab – in der letzten Zeit nahm die Geschwindigkeit zu. Immer wieder kommt es zu Felsabbrüchen, immer wieder donnert Geröll in Richtung Kandersteg. Das ist nicht ungefährlich.
Der Kanton Bern misst die Bewegungen des Steins seit 2018 mit verschiedenen Methoden. Immer wieder sind Expertinnen und Experten vor Ort. Im September konnten sie einen Felssturz hautnah miterleben.
«Die aktuelle Entwicklung lässt uns vermuten, dass es irgendwann einen grösseren Abbruch geben wird», sagt Nils Hählen, Leiter Abteilung Naturgefahren beim Kanton Bern. «Die Situation wird sich wohl nicht entspannen – sie wird eher von Jahr zu Jahr kritischer.»
Diese Beobachtung war für den Kanton Bern Grund zu handeln: Er verhängte Massnahmen, um das Dorf unterhalb des Spitzen Steins zu schützen.
Befürchtet wird nicht, dass Dorfbewohnerinnen und -bewohner verletzt oder gar getötet werden könnten. Dank den Messstationen oben im Felsgebiet können die Fachleute einen grossen Felssturz etwa 48 Stunden vorher ankünden. Deshalb geht es bei den Massnahmen viel mehr um den Schutz der Gebäude und der Infrastruktur.
Im Ganzen sind rund 20 Millionen Kubikmeter Fels am «Spitzen Stein» in Bewegung. Falls alles auf einmal kommt, wären die Folgen für Kandersteg verheerend. Damit rechnen die Experten allerdings nicht.
In Kandersteg ist man sich einig, dass ein grosser Felssturz gefährlich ist. Dennoch wehrt sich das Dorf gegen die vom Kanton vorgeschlagenen Schutzmassnahmen.
Das ist unser Zuhause. Wir wohnen hier.
Christoph Wandfluh und seine Frau betreiben ein Hotel und ein Bergrestaurant am Oeschinensee. Sie sind betroffen, da der Schlittelweg jetzt geschlossen ist – er liegt in der Sperrzone. «Dieser Weg war unsere Perle», so Wandfluh, «der Wintertourismus läuft in Kandersteg sowieso nicht überragend.»
Im Dorf soll eine Planungszone eingeführt werden, um Sachschäden zu verhindern. Dort darf nicht mehr neu gebaut werden. Das stösst Bauunternehmer Fritz Rösti und dem Handwerker- und Gewerbeverein sauer auf. Rund zwei Drittel des Dorfes liegen in der Gefährdungszone. «Das Land dort hat im Moment keinen Wert.» Er befürchtet, dass Kandersteg ausstirbt.
Diese Befürchtung teilt der amtierende Gemeinderatspräsident Urs Weibel nicht. «Ich glaube nicht, dass unser Dorf nicht mehr gepflegt wird.» Die Planungszone gelte vorläufig zwei Jahre. Zudem sei die Zone ein Kompromiss mit dem Kanton. Hätte der Kanton alleine entschieden, wären die Massnahmen strikter. «Dann würde ein genereller Baustopp gelten.»
Eine Gratwanderung
Ab dem neuen Jahr hat die Gemeinde einen neuen Gemeinderatspräsidenten, Hotelier René Mäder. Er meint: «Wir müssen die Leute im Dorf schützen, dass ist klar. Die Frage ist aber, wie gross der Schutz der Gebäude sein muss.» Er spüre die Existenzängste des Gewerbes. Sein Ziel sei, möglichst viel für die Leute in Kandersteg herauszuholen. Aber: «Es muss sich mit der Gefahr vereinbaren lassen.»
Der Stein bleibt derweil in Bewegung und rutscht immer mehr ab. Aber wann und wie viel kommt, das können auch die Fachleute nicht sagen. «Wir wissen nie, ob wir innerhalb weniger Tage unseren Betrieb schliessen müssen. Und wir wohnen ja auch hier», sagt Hotelbesitzer Christoph Wandlfuh vom Oeschinensee. Diese Ungewissheit, das sei das Schlimmste.