In den Schweizer Haushalten türmen sich die Medikamente – je älter wir werden, desto höher.
Mit 50 Jahren haben bereits zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung mit zwei oder mehr chronischen Krankheiten zu tun. Dazu kommen akute Beschwerden. Gegen alles gibt es Pillen, Pülverchen, Salben und Säfte, die vom Hausarzt oder Spezialisten verschrieben oder rezeptfrei in der Apotheke besorgt werden.
Ein Viertel bis die Hälfte aller Patienten über 65 nimmt mindestens fünf Medikamente gleichzeitig ein.
Über die Jahre kommt so ein bunter Medikamenten-Cocktail zusammen, der es in sich hat.
«Ein Viertel bis die Hälfte aller Patienten über 65 nimmt mindestens fünf Medikamente gleichzeitig ein», schätzt David Schwappach von der Stiftung für Patientensicherheit. «Bei Menschen in Pflegeheimen werden es im Durchschnitt bis zu zehn sein.»
Eine sehr vorsichtige Schätzung, wie ein Experiment des SRF-Gesundheitsmagazins «Puls» nahelegt.
Medikamenten-Check beim Hausarzt
Auf einen entsprechenden Aufruf hin meldeten sich zahlreiche Zuschauerinnen und Zuschauer, die regelmässig mindestens acht Medikamente gleichzeitig einnehmen. Mit vieren begab sich «Puls» für einen Medikamenten-Check zu Hausarzt Felix Huber – der nicht schlecht staunte, wie viele Packungen sich schliesslich auf seinem Schreibtisch stapelten. In einem Fall über 30.
Unter den mitgebrachten rezeptpflichtigen wie rezeptfreien Arzneien fanden sich die üblichen Verdächtigen: «Säureblocker werden zum Beispiel viel zu häufig genommen», weiss Huber, «weil die mal verschrieben wurden und sich niemand traut, sie wieder abzusetzen.»
Oder Cholesterinsenker bei über 75-Jährigen ohne Erkrankung der Herzkranzgefässe. «Da weiss man, dass die Primärprophylaxe nichts bringt.» Empfehlung: Weglassen.
Ein weiterer Klassiker: Präparate aus Alternativmedizin und Naturheilkunde, die als schonende Zusatzbehandlung gedacht sind. «Da kann es durchaus zu Interaktionen kommen. Johanniskraut ist beispielsweise nicht ganz ungefährlich.»
20'000 Spitalaufenthalte jährlich
Für sich allein mag jede Verschreibung Sinn machen, in der Summe wird’s gefährlich: Die Wechselwirkungen der verschiedenen Arzneien sind das grösste Problem, wenn jeder Arzt nur für sich schaut und niemand mehr den Überblick hat.
Jährlich 20'000 Spitalaufenthalte sind Schätzungen zufolge auf die direkten und indirekten Folgen von Medikamenten-Wechselwirkungen zurückzuführen.
Sehr oft zeigen sich Probleme mit Medikamenten erst nach dem Spitaleintritt. So zum Beispiel bei einem Patienten, der zwar wegen eines Beinbruchs eingeliefert wurde, darüber hinaus aber unter starker Übelkeit, Appetitlosigkeit und Schwindel litt.
Der standardmässige Medikamentencheck durch den Altersmediziner brachte Licht ins Dunkel: «Er hat ein Medikament bekommen, welches bekannterweise Übelkeit verursacht», erklärt Geriater Andreas Schönenberger. «Statt dieses zu stoppen, hat man andere Medikamente dazugegeben, um die Übelkeit zu bekämpfen.» Eine typische Verschreibungskaskade.
Es fällt vielen Ärzten leichter, etwas zu verschreiben, als etwas abzusetzen.
«Es fällt vielen Ärzten leichter, etwas zu verschreiben, als etwas abzusetzen», weiss Schönenberger. Und die Patienten sind nicht besser: Erhalten sie neue Medikamente, nehmen sie die alten zu Hause oft trotzdem weiter. «Dann wird es gefährlich», warnt Hausarzt Felix Huber.
Patienten meist sich selbst überlassen
Huber hat sich derweil durch die Medikamentenberge der «Puls»-Probanden gekämpft und sie nach Notwendigkeit und Nützlichkeit sortiert. Der Anteil unnützer, wenn nicht gar schädlicher Präparate ist beeindruckend gross.
Wissen Ärzte, was ihre Patienten alles schlucken, können sie also durchaus Ordnung in das Chaos bringen. Und sie könnten bessere Medikamente verschreiben.
Das Problem: Der Ball liegt meist bei den Patienten.
Zwar liesse sich auf Ärzteseite mit elektronischen Patientendossiers oder anderen Datenbanklösungen gut und schnell für Übersicht sorgen. Noch hat sich in der Schweiz aber kein System durchgesetzt. Und viele Praxen tun sich grundsätzlich schwer mit dem Anschluss an die Moderne.
Dass sich daran in absehbarer Zeit viel ändern wird, glaubt David Schwappach eher nicht: «Die Hausärzte sind insgesamt noch zu wenig sensibilisiert für das Thema Medikation», meint der wissenschaftliche Leiter der Stiftung für Patientensicherheit.
«Mindestens einmal im Jahr bei jedem Patienten schauen, was genommen wird und weggelassen werden kann – da ist noch viel zu tun.»