«Würde ich warten, könnte ich gleich in den Rollstuhl», sagt Marie-Christine Leutwyler. Die 33-jährige Mutter wirkt auf den ersten Blick gesund – das ist sie aber nicht. Sie leidet an einer schweren Krankheit. Vor acht Jahren erhielt sie die Diagnose: Multiple Sklerose, kurz MS. Eine Auto-Immunerkrankung, bei der das körpereigene Abwehrsystem überreagiert und das Nervensystem nach und nach zerstört.
Marie-Christine Leutwyler nimmt täglich starke Aufputschmittel. Sonst wäre sie ständig müde. Ein typisches Zeichen von MS. Sie leidet auch an Gefühlsstörungen in der Hand. Und seit einigen Monaten ist auch ihre Motorik eingeschränkt: Sie hinkt und kann auch keine langen Strecken mehr laufen. Marie-Christine Leutwyler ist eine von etwa 15’000 Betroffenen in der Schweiz. Viele davon sind noch jung.
Mittlerweile gibt es moderne, hochwirksame Medikamente, die den meisten gut helfen – aber nicht allen. «Ich hatte unter keinem Medikament Verbesserungen, immer nur neue Schäden», sagt Marie-Christine Leutwyler. «Jedes Jahr, wenn ich ein MRI machte, hiess es: drei neue Läsionen, fünf neue Läsionen, zwei neue Läsionen. Es hörte nie auf.»
Therapie endlich in der Schweiz
Marie-Christine Leutwyler ist eine Paradekandidatin für eine spezielle Methode, um das Fortschreiten der MS zu stoppen: Sie nimmt Medikamente, die nicht wirken, ist noch jung und nur wenig behindert. Damit erfüllt sie alle Kriterien, damit sie eine Behandlung machen darf, die erst wenige in der Schweiz machen durften: Eine Stammzelltransplantation – eigentlich eine Methode, die bei Krebspatienten angewendet wird.
Bei MS wurde diese Methode bis vor kurzem nur im Ausland ausgeführt. In der Schweiz blieben viele Ärzte skeptisch – und die gesetzlichen Hürden für eine Zulassung waren hoch.
Seit Juli 2018 hat der Bund seine strengen Kriterien für die Therapie gelockert. Jetzt werden am Universitätsspital Zürich MS-Kranke behandelt. Dies ist im Rahmen einer Studie möglich und wird auch von den Kassen bezahlt.
Wirksame Therapie bleibt einigen verwehrt
Doch nicht für alle MS-Patienten: Einige erfüllen die Kriterien für die Behandlung nicht. Weil sie hier durchs Raster fallen, müssen sie noch immer ins Ausland reisen.
So erging es Ivan Salomone. Auch er hat 2011 die Diagnose MS erhalten, im selben Jahr wie Marie-Christine Leutwyler. Er kam für die Behandlung in Zürich nicht in Frage, weil er bereits zu stark behindert ist. Er versteht das nicht: «Man müsste doch zuerst schwere Fälle behandeln, da ist es doch dringend.» Während die ersten Patienten in der Schweiz behandelt wurden, durchlief er dasselbe Prozedere in Moskau und musste dafür 50’000 Franken selber aufbringen. Die ganze Familie half mit.
Roland Martin ist Neurologe am Unispital in Zürich. Er setzt sich seit Jahren für die Stammzellentherapie ein und leitet die Fachgruppe für die Stammzelltransplantation. Er beruft sich auf die Kriterien, die mit dem Bundesamt für Gesundheit vereinbart wurden. «Wir haben uns stark daran orientiert, was in den letzten zehn Jahren diskutiert worden ist. Wenn jemand grob aus diesen Kriterien raus fällt, begeben wir uns in ein unsicheres Territorium. Momentan müssen wir Grenzen setzen und können darüber nicht hinausgehen. Ob wir in Zukunft die Kriterien weiter fassen, wird von der Erfahrung abhängen.»
Am Unispital sind bereits rund 200 Anfragen eingegangen. Durchlaufen haben die Behandlung in der Schweiz bisher 20 MS-Patienten.
Unklar, wie lange der Erfolg andauert
Für Marie-Christine Leutwyler ist Behandlung eine Therapie der letzten Hoffnung. Unternimmt sie nichts, sieht ihre Prognose düster aus: Sie müsste damit rechnen, dass sich ihre Gehfähigkeit weiter verschlechtert und sie innert weniger Jahre auf den Rollstuhl angewiesen wäre.
«Ich will nicht, dass das meine Tochter mich später einmal pflegen muss», sagt Marie-Christine Leutwyler. Ihre Tochter Adriana ist anderthalb Jahre alt. Sie ist ein wichtiger Grund, weshalb sie sich auf die belastende Therapie einlässt.
Ein Spaziergang ist die Behandlung nicht. Eine Chemotherapie ist körperlich sehr belastend, das Immunsystem sehr anfällig auf Infektionen. Dafür verspricht die Behandlung einen grossen Effekt. «Laut Literatur dürfen wir erwarten, dass sie nach der Therapie die nächsten Jahre keine Schübe mehr hat und keine neuen Läsionen entwickelt. Wir gehen davon aus, dass wir die Krankheit stoppen können, deshalb machen wir die Behandlung», weiss Ilijas Jelcic, Neurologe und behandelnder Arzt von Marie-Christine Leutwyler.
Vieles ist aber noch unklar, Langzeitstudien gibt es erst wenige. «Wie lange der Effekt anhält, wissen wir noch nicht. Es gibt Daten, dass es mindestens sieben Jahre andauern kann.» Eine Art Präventivschlag gegen eine weitere Verschlimmerung .
Bereits der harmlose erste Schritt ist nicht zu unterschätzen
Es ist Ende März 2019. Marie-Christine Leutwyler steht ganz am Anfang der Behandlung – vor der Entnahme der Stammzellen. Dieser erste Schritt beginnt mit einem kurzen Aufenthalt im Spital. Es braucht Blutproben und einen Zugang für Medikamente. Marie-Christine Leutwyler muss sich überwinden, sie hat Angst vor Spritzen.
Gleichzeitig erhält sie eine erste Dosis Chemotherapie und Medikamente, die die Bildung von Stammzellen anregen. Zu Hause geht es weiter mit den täglichen Spritzen. Eine Woche lang, bis sie zurück im Unispital an ein Gerät angeschlossen wird, das die Stammzellen sammelt.
Marie-Christine Leutwyler fühlt sich matt. Das ist für die Hämatologin Antonia Maria Müller nicht überraschend. «Hier haben wir eine ordentliche Chemotherapie-Dosis verabreicht. Damit wir die Lymphozyten, die Immunzellen, die das Problem bei der MS verursachen, runterfahren. Dass die schon mal weg sind. Man darf die Therapie nicht unterschätzen.»
Nach dem Blutsammeln darf sie wieder heim – und dort spürt sie weitere Nachwirkungen. «Jetzt ist es soweit, die erste Chemotherapie ist durch und jetzt fallen alle Haare aus», sagt sie. «Deshalb rasieren wir jetzt» Ihr Mann hilft ihr dabei.
«Ich habe zwei Stunden geweint»
Zwei Wochen später beginnt die grosse Chemotherapie. Für Marie-Christine Leutwyler heisst das auch: Sie wird ihre Tochter Adriana mehrere Wochen lang nicht mehr sehen dürfen – wegen der Infektionsgefahr. «Ich habe zwei Stunden geweint», sagt Leutwyler.
Sie bezieht auf der Hämatologie ein Einzelzimmer. Es wird für die nächsten vier Wochen ihre Welt sein, die sie in der heiklen Phase nicht verlassen darf. Der Countdown läuft. Jetzt beginnt der schwerste Teil der Behandlung. Die nächsten Tage erhält sie einen ganzen Cocktail an Substanzen. Solche, die ihr Immunsystem langsam zerstören und solche, die dafür sorgen, dass sie die Nebenwirkungen besser verträgt. Ihre Medikamente gegen die Müdigkeit wurden abgesetzt. Deshalb schläft sie vor allem.
Der Tag Null
Ende Mai: Nach einer Woche Chemotherapie erhält Marie-Christine Leutwyler ihre Stammzellen zurück. Sie kommen aus dem Labor, gelagert in einem Spezialbehälter mit flüssigem Stickstoff, bei rund minus 200 Grad. In einem Wasserbad werden sie aufgewärmt und dann Marie-Christine Leutwyler über die Halsvene zurückgegeben.
Das ist er also, der Tag 0, an dem das Immunsystem neu gestartet wird – hoffentlich ohne die Fehler, die MS verursachen. Nach 25 Minuten ist die Prozedur vorbei. Der grosse Moment, auf den Marie-Christine Leutwyler so lange gewartet hat. «Jetzt ist es passiert. Ich hoffe einfach, dass es klappt», sagt Marie-Christine Leutwyler mit Tränen in den Augen.
Schwere Komplikationen
Weil das Immunsystem sich nach Stammzell-Transplantation neu aufbauen muss, sind die Tage danach besonders kritisch. «Frau Leutwyler gehört eher zu den Patienten, die mehr Mühe hatten mit diesem Eingriff», sagt der Neurologe Ilijas Jelcic. Am Tag nachdem sie die Stammzellen erhalten hat, erleidet sie einen allergischen Schock, dann eine schwere Magen-Darm-Infektion.
«Sie lag völlig apathisch im Bett, hatte wahnsinnige Schmerzen und bekam Morphium», sagt ihr Vater Jost Leutwyler, der sie in dieser Zeit viel besuchte.
Lang ersehntes Wiedersehen
Drei Wochen nach dem Eingriff, darf die Tochter erstmals zu Besuch. Sie scheint die Mutter zuerst kaum wiederzuerkennen.
Mittlerweile ist Anfang Juni. Marie-Christine Leutwyler hat genug vom Spital. Sie möchte heim, so rasch als möglich. Zu ihrer Familie. Doch kaum zu Hause, bricht sie zusammen und muss für drei weitere Wochen in die Reha-Klinik. Zu Beginn ist sie mit dem Rollator unterwegs. Zu unsicher ist ihr Gang, zu gross die Sturzgefahr. Mit täglicher Physiotherapie muss sie ihre Muskeln langsam wieder aufbauen. Die starke Chemotherapie, die lange Zeit im Spitalbett haben ihre Spuren hinterlassen.
Noch ist eine riesige Kluft zwischen ihrem körperlichen und kognitiven Befinden: «Die geistige Präsenz ist total anders. Vom Kopf her bin ich sehr wach, ich kann mir Sachen besser merken. Die Müdigkeit ist praktisch weg.» Körperlich muss sie sich noch zurückkämpfen. Bis zu einem Jahr kann das dauern.
Rund zwei Monate nach dem Eingriff, muss sie zur Nachuntersuchung. Zum Scan ihres Gehirns mittels MRI. «Das erste MRI seit Beginn der Krankheit, das keine neue Läsionen zeigt», sagt Marie-Christine Leutwyler erleichtert. «Endlich ist Ruhe im Kopf.» Die MS scheint gestoppt, nun muss sie sich die nächsten Monate noch vom Eingriff erholen.