Wenn die Verwaltung für den Bundesrat Strategien und Gesetze entwirft, dann stützt sie sich auf Bevölkerungsszenarien des Bundesamtes für Statistik (BFS). Diese schätzen ein, wie stark die Bevölkerung innerhalb von fünfzig Jahren wachsen wird. Drei Varianten werden errechnet: mit einer tiefen, einer mittleren und einer hohen Zuwanderung. Verwenden darf die Verwaltung aber nur das mittlere Szenario.
Die Direktorin des Bundesamtes für Raumentwicklung, Maria Lezzi, sagt: «Wir sind von Bundesseite her verpflichtet, diese zu verwenden.» Doch das mittlere Szenario hat in den letzten Jahren die Zuwanderung massiv unterschätzt. Für das letzte Jahr zum Beispiel ging das BFS davon aus, dass rund 40'000 Ausländer mehr in die Schweiz einwandern als auswandern. Tatsächlich war der Wanderungssaldo aber mehr als doppelt so gross: Über 85'000 Menschen sind unter dem Strich zugewandert.
Prognosen wurden übertroffen
Migrationsströme würden von unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst, erklärt der Direktor des BFS, Georges-Simon Ulrich: «Es ist eben etwas schwierig, Aussagen über die Zukunft zu machen. In Teilbereichen kann man das besser, in anderen nicht so gut.» Insbesondere das Voraussehen von Migrationsströmen sei schwierig. «Ungefähr so, wie wenn sie über die Wirtschaftsentwicklung Aussagen machen möchten.»
Fakt ist, dass die Zuwanderung in den letzten Jahren eher dem hohen Szenario des BFS entsprochen hat als dem mittleren. In den letzten drei Jahren hat sie das hohe Szenario sogar deutlich übertroffen. Das bedeutet aber auch, dass die Bundesverwaltung mit zu tiefen Zuwanderungszahlen gerechnet hat.
Auswirkungen auf Verkehr und Energie
Zum Beispiel bei der Energiestrategie 2050: Ginge die Zuwanderung in diesem Ausmass weiter, wären die Ziele der Strategie kaum mehr zu erreichen, weil immer mehr Menschen Strom verbrauchten und damit die sogenannte Stromlücke grösser würde. Oder im Bereich Verkehr: Hier zeigen Berechnungen zu den Verkehrsperspektiven bis 2030 des Bundesamtes für Raumentwicklung, welche Auswirkungen eine Zuwanderung gemäss hohem Szenario hat.
Um über einen Viertel würde der motorisierte Individualverkehr demnach bis in 25 Jahren zunehmen, statt um einen Fünftel wie im mittleren Szenario. Noch dramatischer wären die Auswirkungen beim öffentlichen Verkehr: Um sagenhafte 76 Prozent würden die zurückgelegten Kilometer anwachsen, gegenüber 50 Prozent im mittleren Szenario. Wer heute von überfüllten Zügen spricht, müsste dann wohl von rappelvollen Zügen sprechen.
Leuthard: «Stau gehört zum Leben»
Verkehrsministerin Doris Leuthard versucht zu relativieren. Die Nachfrage nähme auch zu, weil die Menschen immer grössere Strecken zurücklegten: «Wir haben gesagt, die Zuwanderung ist nur etwa die Hälfte der Mobilitätszunahme. Insofern: Man kann diesen Link machen, aber er wird einfach auch nur zur Hälfte dem Problem gerecht.»
Überhaupt dürften Bevölkerungsszenarien nicht überbewertet werden. «Das sind schlussendlich Spiele. Wir werden nie das ganze Mobilitätsbedürfnis abbilden können. Und das ist auch nicht nötig», findet Leuthard. «Ein bisschen im Stau stehen, ein bisschen warten, das gehört zum Leben. Deshalb ist es für uns auch nicht erstrebenswert, jetzt jedes Mobilitätsbedürfnis zu befriedigen.»
Am besten mehrere Varianten hinzuziehen
Es empfehle sich, nicht nur ein Bevölkerungsszenario heran zu ziehen, bilanziert Ulrich, Direktor des BFS: «Was wir den Leuten jeweils raten, ist, dass sie mit verschiedenen Szenarien arbeiten. Aus diesem Grund produzieren wir auch verschiedene Szenarien und Varianten, damit man damit etwas spielen und mit den Annahmen arbeiten kann.»
Hinter vorgehaltener Hand erklären mehrere Verantwortliche aus der Bundesverwaltung, man werde über die Masseneinwanderungsinitiative noch einmal ganz froh sein. Denn damit könne man sich bei der Zuwanderung wieder dem Szenario annähern, mit dem man eigentlich gerechnet habe.