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Tabu Kindstod Betretenes Schweigen ist keine Hilfe

Fehl- und Totgeburten sind keine Seltenheit. Der Umgang mit dem Thema fällt Betroffenen wie Spitälern trotzdem schwer.

«Jede Frau, die nicht weiss, dass sie schwanger ist und eine Fehlgeburt hat, denkt, sie verblutet. Es kommt so viel Blut heraus!» In ihrem Podcast «Untenrum» erzählt die Journalistin Naomi Gregoris ihre eigene Geschichte ihrer Fehlgeburt vor anderthalb Jahren. Ein bewusster Schritt an die Öffentlichkeit, weil Fehl- und Totgeburten in unserer Gesellschaft immer noch totgeschwiegen werden.

Ein Tabu, gegen das sie ankämpfen will: «Offenheit und Verletzlichkeit zu zeigen ist wichtig, um bei anderen Leuten Empathie und Verständnis zu generieren», ist sie überzeugt.

Dieser Ansicht ist auch Arabel Mettler. «Nicht darüber reden ist das Schlimmste. Denn das gibt meiner Tochter keine Berechtigung, hier zu sein. Dabei war sie für mich lebensverändernd, prägend, und das möchte ich teilen können.»

Sieben Tage nach dem geplanten Geburtstermin nahm Arabel Mettlers bis da mustergültig verlaufene Schwangerschaft ein tragisches Ende: «Plötzlich habe ich gemerkt, dass sich das Kind nicht mehr bewegt. Dass etwas nicht gut ist.» Als alle Bemühungen nichts fruchteten, alarmierte sie die Hebamme. Ein Ultraschall brachte die traurige Gewissheit: «Es ist gestorben in meinem Bauch. Sein Herz hat einfach aufgehört zu schlagen.»

Arabel Mettler wollte ihre tote Tochter so schnell wie möglich gebären. Noch in derselben Nacht brachte sie Camille auf die Welt – unter körperlichen und seelischen Schmerzen. «Die seelischen Wehen haben mich wirklich fast zerrissen. Dieses Wissen, dass alles schon zu Ende ist, bevor es überhaupt begonnen hat...»

Fehl- und Totgeburten: Keine Seltenheit

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Fast jede fünfte Schwangerschaft endet in den ersten 12 Wochen mit einem ungewollten Abort. Auch später in der Schwangerschaft stirbt in über 600 Fällen pro Jahr ein Kind im Mutterleib.

Ihr totes Kind so schnell wie möglich zur Welt bringen: Diesen Wunsch hatte auch Gina Kunze.

Elin starb in der 28. Woche. Weil im Spital aber kein Platz frei war, musste die Mutter eine Woche lang mit dem toten Kind im Bauch weiterleben.

«Am schlimmsten war die Vorstellung, nach draussen zu gehen und jemanden anzutreffen, der mich kennt und sich nach dem Stand der Schwangerschaft erkundigt. Wie es mir gehe und wie lange es noch dauere.» Dass sie dann in Tränen ausbrechen würde und alles erzählen müsste, was geschehen ist. Und dass sie jetzt ein totes Kind im Bauch habe.

Die Geburt beendete den zermürbenden Zustand. «Ich habe der Hebamme gesagt, dass man mir mein Kind sofort geben soll. Ich wollte es in meine Arme nehmen, weil es... mein Mädchen war», erinnert sich Gina Kunze. «Klar, es war tot. Aber es war da. Ich konnte sehen, wie es aussah, seine Haare, seine Ohren.»

Auch wenn es vielleicht schwierig sei, dies nachzuvollziehen: «Diesen Moment möchte ich nicht missen.»

Anders als die Momente, die darauf folgten. Als das Kind im Bettchen aus dem Zimmer gefahren wurde und klar war, dass es das nun endgültig war. «Die Hebamme hat gesagt, wir sollen uns Zeit lassen und läuten, wenn wir bereit wären», erinnert sich Ehemann Stefan. «Aber der Moment, wenn man auf den Knopf drückt – der war einfach furchtbar.»

Als puren Stress erlebte Anna Fiechter die Betreuung im Spital. Ihrer Nora waren nur 26 Wochen im Bauch der Mutter vergönnt. Als der Tod feststand, sollte es sehr schnell gehen: «Zwei Ärztinnen drängten mich dazu, gleich zu gebären. Aber ich war noch nicht bereit dafür.»

Das wollte man nicht akzeptieren, drängte und warnte vor einer angeblich möglichen Vergiftung. Doch Anna Fiechter setzte sich durch. Liess sich von ihrem Mann nach Hause bringen.

Fünf weitere Tage trug sie das tote Baby im Bauch. Aus medizinischer Sicht kein Problem.

«Wir haben diese Zeit als Familie einfach gebraucht», erinnert sich Anna Fiechter. «Unserer zweijährigen Tochter mussten wir zum Beispiel erklären, dass sein Schwesterlein früher kommt – und leider nicht so, wie wir es uns vorgestellt haben.»

Fiechters haben die totgeborene Nora mit einem Schrein ins Alltagsleben integriert. Für die mittlerweile dreijährige Amelie ist ihre tote Schwester ein Teil der Familie.

Auch Arabel Mettler zündet für ihre vor eineinhalb Jahren geborene und gestorbene Camille immer noch regelmässig eine Kerze an. Gina Kunze blättert gern im Tagebuch, in dem sie ihre Trauer niedergeschrieben hat. Und Journalistin Naomi Gregoris verarbeitet ihr Erlebnis, indem sie es öffentlich macht, mit Podcast und Zeitungsartikeln.

Arabel Mettler hat inzwischen eine Selbsthilfegruppe gegründet, wo sie auch Gina Kunze kennenlernte. «Nur wer so was selber erlebt hat, weiss, wovon wir reden», sagt Arabel Mettler.

Alle haben sie ihre Erfahrungen mit der Tabuisierung von Früh- und Totgeburt gemacht. Mit dem betretenen Schweigen, das über dem Thema liegt. «Ich habe viele Leute gefragt, weshalb sie mich nicht darauf angesprochen haben», sagt etwa Gina Kunze. «Dann hiess es, ‹ja weisst Du, wir wollten nicht alles wieder aufwühlen›.»

Dabei wäre es ihr viel lieber gewesen, wenn man sie aufgewühlt hätte. Hätte viel lieber darüber geredet, als mit dem scheinbaren Desinteresse ihres Umfelds konfrontiert zu sein.

Arabel Mettler legt den Finger auf einen anderen wunden Punkt: Die Betreuung in dieser schwierigen Lebensphase.

«Es ist so wichtig, dass man nicht alleine gelassen wird. Eine professionelle Betreuung ist das A und O, um eine solide Basis für das Weiterkommen zu haben.»

Die Soziologin Claudia Meier Magistretti zeigt in ihrer neusten Studie, dass genau diese Begleitung in Schweizer Spitälern oft fehlt.

«Von den befragten Müttern hat keine von einer kontinuierlichen Begleitung erzählt – obwohl sie sich eine solche gewünscht hätten», hält sie fest. «Punktuell gab es so etwas um den Geburtszeitpunkt herum. Aber vom Moment der Diagnose bis in den Trauerprozess hinein? Nein, das hat es im Rahmen unserer Studie nicht gegeben.»

Wobei es mit einer Standardbetreuung nach Schema F nicht getan ist. «Viele Leute haben das Gefühl, es gebe eine ‹richtige› Art zu trauern. Und dabei möchten sie den Müttern helfen», weiss Claudia Meier Magistretti. Dabei seien Trauerprozesse hochgradig individuell, dauern unterschiedlich lange und setzen manchmal auch erst nach einem guten halben Jahr ein. Gerade bei Männern.

Das wichtigste: Da sein, zuhören, die Trauernden nicht in ein Schema pressen.

«Eine Frau hat uns gesagt, sie sei besonders froh gewesen über Leute, die sie einfach ausgehalten haben, wie sie war.»

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Sendung: Puls, 27.01.2020, 21:05 Uhr

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