Ein halbes Jahr vor den Nationalratswahlen zeigt sich vor allem eines: «Das Elektorat ist bereits mächtig in Fahrt», sagt Claude Longchamp, Leiter des Forschungsinstitutes gfs.bern. Im Rahmen des ersten SRG-Wahlbarometers 2015 gaben nämlich 48 Prozent der Befragten an, in diesem Jahr wählen zu wollen. So früh im Wahljahr sei dies eine «recht grosse Zahl».
Wegen der Aufhebung der Euro-Mindestgrenze durch die Nationalbank und den Unsicherheiten bezüglich der Beziehungen zur EU herrsche «ein Grundgefühl der Angst», so Longchamp. Viele Wähler befürchteten, «dass es der Schweiz schlechter gehen könnte». Die Wahlbevölkerung, wenn auch stark politisiert, setze wegen der Verunsicherung aber auf Stabilität statt Protest.
Gewinner und Verlierer
Würde heute gewählt, gäbe es deshalb nur bei wenigen Parteien höhere Gewinne oder Verluste. Zulegen kann vor allem die FDP. Sie setzt den Trend aus den Kantonen fort, kann die eigene Wählerschaft gut mobilisieren und ist auch für Wechselwähler attraktiv.
Verliererin ist die BDP. Ihr grosses Problem: «Bei der BDP findet eine Demobilisierung statt», wie Longchamp erklärt. Zum jetzigen Zeitpunkt würden die eigenen Wähler also zuhause bleiben statt der BDP an der Urne ihre Stimme zu geben.
Allerdings räumt Longchamp ein, dass bei keiner Partei «gesicherte Aussagen möglich» sind. Die Wahrscheinlichkeit von Gewinnen und Verlusten liegt bei allen Parteien unter den dafür nötigen 95 Prozent.
Die Parteien im Überblick:
Die SVP kommt im SRG-Wahlbarometer auf 26,2 Prozent. Sie hält damit ihr Niveau von 2011 und bleibt wählerstärkste Partei. Die Partei hat es zwar geschafft, mit der Masseneinwanderungs-Initiative thematisch den Nerv der Bevölkerung zu treffen. «Bei der Umsetzung fehlt ihr aber ein mehrheitsfähiges Rezept», erklärt Longchamp. So habe die Partei ihre beherrschende Stellung in der Migrationsfrage verloren.
Die SP als zweitstärkste Kraft kann gegenüber dem Wahljahr 2011 leicht zulegen und kommt auf 19,6 Prozent. Sie kann ihre eigene Wählerbasis gut mobilisieren und im linken Lager zusätzliche Stimmen holen, namentlich von den Grünen.
Die FDP legt um 1,2 Prozentpunkte zu und kann einen Wähleranteil von 16,3 Prozent für sich verbuchen. Neben der eigenen Wählerbasis sind die Freisinnigen auch für Wechselwähler wieder attraktiv, namentlich bei letztmaligen GLP- oder SVP-Wählern.
Die CVP bleibt viertstärkste Kraft und kann ihren Wähleranteil bei 11,8 Prozent auf stabilem Niveau halten. Der Partei macht aber die Westschweiz zu schaffen. Laut Longchamp ist dort die Wählerbewegung hin zur SVP noch im Gang.
Die Grünen verlieren gegenüber dem Wahljahr 2011 fast einen Prozentpunkt. Damals hatte die Nuklearkatastrophe von Fukushima das Bewusstsein für Umweltanliegen geschärft, was den Grünen zusätzliche Wählerstimmen bescherte. Noch immer hält die Wahlbevölkerung das Thema Umwelt für wichtig, doch die Grünen bieten nicht mehr als einzige Rezepte an. Im SRG-Wahlbarometer liegen sie nun bei 7,5 Prozent.
Die GLP kann ihren Höhenflug der letzten Wahlen nicht fortsetzen, aber ihren Wähleranteil halten. Sie kommt auf 5,6 Prozent. Noch im September 2014 wollten 7,3 Prozent der Befragten die GLP wählen. Laut Claude Longchamp könnte der Rückgang mit der zeitlichen Nähe der aktuellen Befragung zur Schlappe bei der von der Partei lancierten «Energie- statt Mehrwertsteuer»-Initiative zusammenhängen. Deshalb sei unklar, ob der aktuelle Wert «situativ oder dauerhaft» sei.
Die BDP verliert den sechsten Rang der stärksten Parteien und 0,8 Prozentpunkte im Vergleich zu 2011. Sie kommt im SRG-Wahlbarometer auf 4,6 Prozent Wähleranteil. Die Partei hat grosse Probleme, die eigenen Wähler zu mobilisieren und ist auch für Wechselwähler kaum attraktiv, wie die Befragung zeigt.
Themen- statt Personenwahlkampf
Laut Claude Lonchamp zeichnet sich der aktuelle Wahlkampf auch dadurch aus, dass es «einen klaren Trend zu Themen» gibt. Personen stünden nicht im Vordergrund. Besonders zwei Themen brennen den Wählern unter den Nägeln: die Migration und die angeschlagene Beziehung zur EU.
«Die Veränderungen der letzten zwei Jahre haben die Wähler verunsichert», sagt Longchamp. «Wer ihnen nun Stabilität in Wirtschaftsfragen anbieten kann, trifft den Zeitgeist.» Dies erkläre einerseits die Gewinne der FDP und zeige sich auch in einer Tendenz der Stärkung des bürgerlichen Lagers.