Es war einmal ein Mädchen aus St. Gallen. Anno 1939, die Matura frisch im Sack, geht sie ins ferne Zürich. Einen Sommer lang erzählt sie an der Landesausstellung Märchen. Im Herbst kennt die ganze Schweiz ihre Stimme. Fortan ist sie die Märchenerzählerin der Nation.
Märchen waren ihr Leben
Ihr ganzes Leben sei geprägt gewesen von den Märchen, erinnert sich ihre Tochter Esther Jenny. Die bekannten Tierstimmen probte Trudi Gerster zu Hause.
Aus dem Schlafzimmer hat es gegackert, gewiehert und gegrunzt.
Sie und ihr Bruder seien oft das Probepublikum gewesen: «Meine Mutter erzählte Märchen und schaute, wie wir reagieren.» Sie habe Kritik gut annehmen können.
Die verkannte Künstlerin
Nur etwas konnte Trudi Gerster nicht ausstehen: Die Bezeichnung als «Märlitante». «Sie empfand den Begriff als abwertend», erklärt ihre Tochter. Trudi Gerster war ausgebildete Schauspielerin, sah sich als Künstlerin. In ihre Märchen steckte sie viel Arbeit. Sie wollte Leuten eine Freude machen. Märchenerzählerin wäre die passende Berufsbezeichung gewesen, sagt ihre Tochter. Gefühlt aber habe sich ihre Mutter als Märchenkönigin.
Die Diva
Generationen von Kindern hingen ihr an den Lippen. Wenn Trudi Gerster in den 60er Jahren am Radio auftrat, seien die Strassen wie leergefegt gewesen, erzählt Franzsika Schläpfer. Sie hat 2016 Trudi Gersters Biografie geschrieben. Gerster habe alles gesammelt, was je über sie publiziert worden sei. Auch Fanpost habe ihr geschmeichelt. Ordnerweise habe sie diese gelagert.
Selbstverliebt? Ja! Trudi Gerster war eine Diva.
Für eine Biografin sei das eine super Ausgangslage. Besonders beeindruckt hat Schläpfer, dass Gerster jeden einzelnen Brief beantwortet habe. Sie war ein Idol. Der Kontakt mit ihren Fans war ihr wichtig.
Die politische Bühne
1968 verwandelte sich die Märchenstimme in eine reale Person. Als eine der ersten Frauen wird Trudi Gerster für den LdU in den Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt gewählt. Ihr langjähriger und mittlerweile verstorbene Parteifreund Hansjürg Weder sagte über sie: «Sie war liebenswürdig, aber hartnäckig, aufsässig und kritisch.»
Trudi Gerster sagte über sich selbst: «Sprachlich gewandt, habe sie gewusst, wie ich meine Anliegen platzieren musste.»
Ich hatte immer ein Publikum. Ich sprach nie Politiker-Chinesisch.
Dennoch: Ihre Kontrahenten hätten stets versucht ihre Mutter in den «Märlieggen» zu drängen, erzählt ihre Tochter. Trudi Gerster war eine Kämpferin. Natur- und Heimatschutz lagen ihr am Herzen.
Trudi Gerster war wie Greta Thunberg.
Ihre Politik sei grün angehaucht gewesen. Sie sei ihrer Zeit voraus gewesen, sagt der damalige Basler Regierungsrat Eugen Keller heute.
Die Geschäftsfrau
Nach 12 Jahren Politik setzte Gerster wieder vollumfänglich auf die Märchen. Sie überliess nichts dem Zufall. «Sie war eine clevere und professionelle Geschäftsfrau», sagt SRF-Musikchef Michael Schuler. Er arbeitete früher für eine Plattenfirma, welche Gersters Hörspiele vertrieb. Sie habe alle Termine selbst organisiert. Stets habe sie Fanartikel zum Verkaufen dabei gehabt.
Das Lebenswerk
Trudi Gerster habe ein zeitloses Werk geschaffen. Bis heute könne ihr niemand das Wasser reichen. Dennoch blieb ihr der ganz grosse Ruhm verwehrt.
Sie wurde stets belächelt. Zu Unrecht schaffte sie es nie in die Topliga der heimischen Kulturszene.
Trudi Gerster erhielt 2005 einen Ehren-Prix-Walo. Doch Schuler weiss: «Gerster litt unter ihrem Ruf als Märchentante». Sie war eine Künstlerin - durchaus eitel, aber humorvoll. Ihr Lebenswerk waren ihre Märchen.
Und auch wenn sie nicht 100 geworden ist, ihre Märchen hören wir noch heute.