Heute sind die Wunden von 1990 verheilt. Trotzdem haftet die späte Einführung des Frauenstimmrechts wie ein Schandfleck an Appenzell Innerrhoden. Ich, selber Appenzellerin, bin der Meinung: Das Hinterwäldler-Urteil wird zu schnell gefällt. Aber Isabel Rohner, Expertin für Frauenbewegungen, sieht es anders.
Beatrice Gmünder: Isabel Rohner, wenn Sie Frauenstimmrecht und Appenzell Innerrhoden hören, was kommt Ihnen dabei in den Sinn?
Isabel Rohner: Der Kampf um das Frauenstimmrecht in Appenzell Innerrhoden ist ein sehr unrühmliches Kapitel in der Demokratie-Entwicklung der Schweiz. Gleichzeitig zeigt diese Geschichte auch, wie viel ein einzelner Mensch im Kampf für Gleichberechtigung bewirken kann. Theresia Rohner ging für die Rechte der Frauen bis vors Bundesgericht. Und hat gewonnen.
Ich sage, die Männer stimmten nicht per se gegen die Frauen, sie hatten in erster Linie Angst um die Tradition der Landsgemeinde. Können Sie dem etwas abgewinnen?
Nein, überhaupt nicht. Mit dem Argument der Tradition wurden die Frauen Jahrhunderte lang zurückgehalten. Damit wurde den Frauen der Zugang zur Bildung, zur ökonomischen Unabhängigkeit verwehrt. Ich finde es gefährlich, mit der Tradition zu argumentieren. Damit wird der Eindruck transportiert, dass alles gar nicht so schlimm ist, nur eine Lappalie. Aber nein, was 1990 in Appenzell passiert ist, ist keine Lappalie. Das Wahl- und Stimmrecht ist ein Grundrecht unserer Demokratie und steht allen Bürgerinnen und Bürgern zu. Was Appenzell Innerrhoden bis 1990 gelebt hat, bis das Bundesgericht entschied, war nicht demokratisch und zudem verfassungswidrig.
Es gibt kein Argument gegen das Frauenstimmrecht, da gehe ich mit Ihnen einig. Die Debatte vor der Landsgemeinde 1990 wurde aber so emotional geführt und die Männer trotzten auch dem Druck von aussen. Lassen sie gelten, dass die Emotionen den Argumenten den Weg versperrten?
Sie meinen, die Appenzeller Männer waren zu emotional für Politik? (lacht) Nein, auch das lasse ich als Demokratietheoretikerin nicht gelten. Ich betrachte den Fall Appenzell systemisch. Der Kampf um das Frauenstimmrecht war eine Bewegung, die in Europa bereits Mitte des 19. Jahrhunderts begann. Auch in der Schweiz. 1971 wurde das Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene eingeführt. Bis 1972 führten es alle Kantone ein, ausser die beiden Appenzell. Die Ausserrhoder Landsgemeinde 1989, Appenzell Innerrhoden erst durch das Bundesgericht 1990. Da hat sich die Politik definitiv zu wenig gekümmert.
Die Schweiz führte das Frauenstimmrecht auf Bundesebene 1971 ein, Jahrzehnte nach allen anderen Ländern in Europa, mit Ausnahme von Portugal und Liechtenstein. Liegt es nicht viel mehr an unserem politischen System, dass wir in der Frauenstimmrechtsfrage so langsam sind?
Ja, das ist absolut richtig. Dass das Frauenstimmrecht in der Schweiz so spät eingeführt wurde, hat auch damit zu tun, dass wir eine direkte Demokratie haben. Ich stelle mir die Frage, was passiert wäre, wenn in den anderen Ländern ebenfalls das Wahlvolk, sprich die Männer, darüber abgestimmt hätten. Ich glaube sogar, wenn man heute darüber abstimmen würde, wäre man erstaunt und entsetzt darüber, was rauskommen würde. Darum ist es so wichtig, dass die Gleichberechtigung von Männern und Frauen heute in der Verfassung steht.
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