Menschen bleiben ein Leben lang Kinder ihrer Eltern. Und: Menschen mit Kindern bleiben ein Leben lang Eltern. Doch was, wenn sich im Alter die Rollen tauschen? Heute werden Menschen immer älter. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit haben familiale Generationen eine so lange gemeinsame Lebenszeit geteilt. Dies birgt Chancen und Gefahren, sagt Pädagogin und Journalistin Cornelia Kazis. Denn die familialen Rollen verändern sich im Lauf des Lebens.
Wie das späte Miteinander gelingen kann, beschreibt Kazis zusammen mit der Psychologin Bettina Ugolini in ihrem neusten Ratgeber «Alte Bande: Wie in späten Jahren eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen Eltern und Kindern gelingen kann». Ein Ratgeber, der Kinder und Eltern gleichermassen adressiert.
SRF 1: Das Thema Eltern-Kinder-Beziehung sei ein Schatten-Thema, insbesondere, wenn unsere Eltern und wir älter werden. Weshalb?
Cornelia Kazis: Es ist ein Schatten-Thema. Wenn Kinder zwischen 40 und 50 Jahren aufhören, von den eigenen Kindern zu erzählen und beginnen unter Freunden über die älter werdenden Eltern zu sprechen. Diese Geschichten bleiben im Privaten. Es ist kein Gesellschafts-Thema, aber es müsste eines werden.
Was waren die grössten Knackpunkte beim Schreiben des Ratgebers?
Der grösste Knackpunkt war, dass es neu ist. Noch nie dauerte die Eltern-Kind-Beziehung so lange wie heute. Es gibt abertausende von Rentnerinnen und Rentern, sogar Grosseltern, die selbst noch Kinder sind, weil beide Eltern oder ein Elternteil, noch leben. Und die Rollen haben sich extrem verändert: Meine Mutter hat selbstverständlich auf ihre Mutter geschaut. Ich als 16-Jährige dachte bereits damals: «Mama, ich glaube nicht, dass ich das für dich machen kann, wenn ich mal so alt bin, weil ich berufstätig sein werde.»
Die Aufgabe, auf die Älteren zu schauen, verteilt sich auf weniger Schultern.
Zusätzlich werden die Familien kleiner. Das heisst: die Aufgabe, auf die Älteren zu schauen, verteilt sich auf weniger Schultern. Und durch Migration und Mobilität war die geografische Distanz zwischen Eltern und Kindern noch nie so gross wie heute.
Im Ratgeber geht es um Beziehungen mit älteren Menschen – wann ist man eigentlich alt?
(Lacht) Die Soziologinnen und Soziologen sind sich hier einig: alt ist man mit der Pensionierung. Also Mitte sechzig. Lustig ist, dass in unterschiedlichen Ländern Europas das Alter anders definiert wird. In Spanien ist man beispielsweise erst mit 74 Jahren alt, in Italien bereits mit 70 Jahren.
Gibt es einen klaren Bruch, wann dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen Eltern und Kindern bricht?
Bei diesem Drehmoment muss man aufpassen, dass man nicht Rollentausch mit Rollenveränderung verwechselt. Rollentausch würde heissen: Jetzt bin ich die Mutter meiner Mutter. Das ist ein verhängnisvolles Missverständnis. Es verändern sich einfach die Verantwortungsgebiete.
Jetzt gilt für die erwachsenen Kinder Stück für Stück und nicht ungefragt, Verantwortung für die Eltern zu übernehmen.
Früher waren die Eltern für einem selbst als Kind verantwortlich und jetzt gilt für die erwachsenen Kinder, Stück für Stück und nicht ungefragt, Verantwortung für die schwächer werdenden Eltern zu übernehmen.
Wann soll ich meine Eltern auf ihr Alter ansprechen?
Ich glaube, wenn man regelmässig im Gespräch ist mit den Eltern, braucht es keinen bestimmten Zeitpunkt. Das zeigt sich im Alltag, beispielsweise, wenn es der Mutter zu viel wird, alle an Weihnachten einzuladen. Oder wenn der Vater sagt: «Ich weiss nicht, ob ich jetzt noch ein neues Auto kaufen soll.» Es gibt immer wieder kleine Eingangstüren, um entwicklungspsychologische Veränderungen anzusprechen.
Das Gespräch führte Marcel Hähni.