43 Prozent der Erwachsenen in der Schweiz sind übergewichtig. Betroffen sind deutlich mehr Männer als Frauen. Übergewicht ist eine Volkskrankheit geworden, und das spürt auch Anne Katrin Borm. Sie ist leitende Ärztin am Adiposidaszentrum des Kantonsspitals Aarau. Dieses erhält so viele Neuanmeldungen wie noch nie, sagt die Fachärztin.
SRF: Ab wann und wie merkt man, dass man übergewichtig ist?
Anne Katrin Borm: Das merkt man, wenn es jedes Jahr mehr wird, man bei den Kleidern Übergrössen braucht oder wenn die eigenen Kleider nicht mehr passen. Übergewichtig ist, wer seinen BMI ausrechnet und dieser deutlich über 25 kg pro Quadratmeter ist. Das Übergewicht hat eine klare Definition mit dem BMI.
Kann man nicht sagen, solange ich gut laufen kann und nicht ausser Atem komme, ist es kein Problem?
Gut laufen und dabei nicht ausser Atem kommen, ist schon einmal eine gute Sache. Das begrüssen wir sehr. Das sind dann Menschen, die körperlich gut trainiert sind. Aber in dem Moment, wo man nicht mehr gut laufen kann und beim Laufen ausser Atem kommt, oder man beim Laufen mit jemandem spricht und dann ausser Atem kommt oder langsamer läuft, weil schnell nicht mehr geht, dann wird es ein Problem.
In letzter Zeit sind die sogenannten Fettweg-Spritzen in aller Munde. Merken Sie das auch?
Wir merken das total. Wir werden komplett überrannt von Patientinnen und Patienten, die gerne die Abnehmspritze haben möchten. Die hat ganz klare Kriterien, die wir prüfen müssen.
Es gibt mehr adipöse Menschen, und sie sind erheblich schwerer.
Eine Voraussetzung ist auch die Eigenarbeit des Patienten. Die Spritze kann nicht zaubern. Lifestyle-Massnahmen sind absolut notwendig. Das heisst, dass man auf die Ernährung achtet und sich körperlich trainiert.
Werfen wir einen Blick auf Hollywood. In der Klatschpresse liest man von der Fettweg-Spritze Ozepmpic, die Schauspielerinnen und Schauspieler verwenden und plötzlich total dünn sind. Ist das ein Wundermittel?
Das Medikament reduziert den Appetit und den Wunsch, zusätzlich zu essen. Dadurch fällt es leichter, eine Diät umzusetzen und durchzuhalten.
Die Spritze kann nicht zaubern.
Man könnte es als Wunderspritze bezeichnen, weil viele Leute es vorher ohne die Spritze nicht geschafft haben. Die Spritze kann nicht zaubern, ohne Eigenarbeit. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben wahrscheinlich gleichzeitig die Kalorien reduziert und Sport gemacht.
Offenbar sind Männer mehr von Übergewicht betroffen. Wer tut sich schwerer mit Abnehmen – Männer oder Frauen?
Das kann man pauschal nicht sagen. Das kommt sehr auf die eigene innere Motivation an. Männer brauchen länger, bis sie erkannt haben, dass sie ein Problem haben und dann sagen, jetzt muss ich wirklich etwas tun. Wenn Männer sich in den Kopf setzen, abzunehmen, dann tun sie sich leichter. Die Frauen kommen früher, aber ihnen fällt es schwerer, es durchzuhalten.
Sie sagen, dass Sie so viele Anfragen haben wie noch nie für Ihre Sprechstunde. Man muss mit Wartezeiten bis zu einem Jahr rechnen. Ist das Bewusstsein in der Bevölkerung gestiegen oder ist das Problem wirklich grösser geworden?
Das Problem hat sich in den letzten 30 Jahren verdoppelt. Es gibt mehr adipöse Menschen, und sie sind erheblich schwerer. Früher lag die Zuweisung bei BMI 35, heute oft bei 45. Jetzt gibt es ein effizientes Medikament und wirksame Operationen, die das Gewicht um 20 bis 30 Prozent, bei OPs um 50 Prozent des Übergewichts reduzieren. Das spricht sich herum – viele wollen es nun angehen, was erfreulich ist.
Das Gespräch führte Elena Bernasconi.