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Armut in der Literatur 5 Bücher, die zum Nachdenken anregen

Armut bedeutet nicht nur Mangel an Geld. Betroffene Menschen fühlen sich abhängig, ohnmächtig und nicht zugehörig. Und sie schämen sich. In der Literatur findet man eindrückliche Beschreibungen von Armut und Elend. Susanne Sturzenegger hat ein paar Klassiker ausgesucht.

Susanne Sturzenegger

SRF Literatur-Redaktorin

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Susanne Sturzenegger befasst sich in der SRF-Literaturredaktion mehrheitlich mit Schweizer- und Mundart-Literatur. Ein Lieblingsbuch zu nennen, ist für eine Literaturredaktorin natürlich nicht einfach. Aber wenn sie eines nennen müsste, wäre es aktuell «Was man von hier aus sehen kann» von Mariana Leky.

Lisa Tetzner: Die schwarzen Brüder (1940/1941)

Giorgio, der 13-jährige Sohn einer armen Kleinbauernfamilie im Verzascatal wird Mitte des 19. Jahrhunderts als Kaminfeger nach Mailand verkauft. Dort muss er in finstere Kamine klettern und von blosser Hand den Russ abkratzen. Eine lebensgefährliche Arbeit.

«In notdürftige Lumpen gehüllt, barfuss oder nur mit schlechten Schuhen versehen, müssen sie, klappernd vor Kälte und entkräftet vor Hunger, von frühmorgens bis spätabends unter dem fortwährenden Geschrei: «Spazzafornello!» die Stadt von einem Ende zum anderen durchziehen.»

DER Schweizer Jugendbuch-Klassiker, der uns in Erinnerung ruft, welche Armut und welche Not vor gut 150 Jahren im Tessin herrschte. Und wie verzweifelt die Menschen gewesen sein mussten. Heftig, aber mir gefällt auch der Mut der Jungs, die sich gegen ihre skrupellosen Meister wehren.

Buchtitel Schwarze Brüder
Legende: «DER Schweizer Jugendbuch-Klassiker, der uns in Erinnerung ruft, welche Armut und welche Not vor gut 150 Jahren im Tessin herrschte.» SRF/Susanne Sturzenegger

Elisabeth Müller: O du Fröhliche. Gschichte für d Wiehnachtszyt (1945)

In ihrer Mundart-Geschichte erzählt die Jugendbuch-Autorin Elisabeth Müller, wie die Kleinbauernfamilie Kaspar jeden Rappen umdrehen muss. So können sie sich natürlich auch keinen Weihnachtsbaum leisten. Der kleine Peter wünscht sich aber sehnlichst, nur einmal so ein mit Kerzen geschmücktes Tannli zu sehen. Mutter Elise hat eine Idee:

«U di Froue hei abgmacht, d Elise söll nume morn z abe mit em Peterli abecho, dä chlyn u mager Spränzel versperi ja nid viel Platz u si o nid, das genieri niemer. Nume das müess si säge: Gschänkli chönn sin ihm de keis gäh, höchstens eis oder zwöi Chrämli.»

Elisabeth Müller schreibt über Menschen, die es nicht einfach haben und die nicht einfach aufgeben. Und meistens zahlt es sich aus. Mir gefällt hier ganz besonders, wie diese Elise trotz der ganzen Not einen gewissen Stolz hat. Und Mut.

weinrotes Buchcoder von O du Fröhliche
Legende: «Mir gefällt hier besonders, wie diese Elise trotz der ganzen Not einen gewissen Stolz und Mut hat.» SRF/Susanne Sturzenegger

John Steinbeck: Früchte des Zorns (1939)

Der US-amerikanische Schriftsteller John Steinbeck schildert in seinem Roman «Früchte des Zorns», wie eine Farmer Familie in den 1930er-Jahren in ihrer Heimat Oklahoma ihre Existenzgrundlage verliert und dann in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach Kalifornien zieht.

«Du weisst, was für Jahre wir gehabt haben. Der Staub ist gekommen und hat alles kaputtgemacht, und die ganze Ernte ist zum Teufel gegangen. Und alle hatten beim Kaufmann Schulden.»

Mir gefällt, wie schonungslos realistisch und gleichzeitig poetisch John Steinbeck über die Armut schreibt. Und wie er mit seinen Figuren ganz liebevoll umgeht.

weinrotes Buchcover Früchte des Zorns
Legende: «Mir gefällt, schonungslos realistisch und gleichzeitig poetisch John Steinbeck über die Armut schreibt.» SRF/Susanne Sturzenegger

Fjodor Dostojewski: Arme Leute (1846)

Mit «Arme Leute» schaffte der russische Schriftsteller den Durchbruch. Die junge Warwára Alexéjewna und der etwas ältere Beamte Makár Djéwuschkin schreiben sich Liebesbriefe. Beide sind bettelarm.

«Man schämt sich irgendwie, wenn man keinen Tee trinken kann. Und eigentlich: Nur wegen der anderen trinkt man ihn, den Tee, Warinka, nur des Ansehens wegen, weil es zum guten Ton gehört. Mir wäre es ja sonst ganz gleich, ich bin nicht einer, der viel auf Genüsse gibt.»

Mir gefällt, wie Dostojewski hier zeigt, wie von Armut Betroffene um ihre Selbstachtung kämpfen. Als Leserin bin ich eine stille Beobachterin und empfinde Empathie für die beiden Figuren. «Arme Leute» ist ein melancholisches Buch, ohne dass es mich zu sehr deprimiert.

bläuliches Buchcover
Legende: «Mir gefällt, wie Dostojewski hier zeigt, wie von Armut Betroffene um ihre Selbstachtung kämpfen.» SRF/Susanne Sturzenegger

Frank McCourt: Die Asche meiner Mutter (1996)

Die Erinnerungen an seine bitterarme Kindheit machten Frank McCourt weltberühmt. Mit 13 hatte er solchen Hunger, dass die Zeitung seines Onkels gierig ableckte. Sein Vater war Alkoholiker, die Mutter musste betteln, um die sieben Kinder durchzubringen.

«In der Schule haben alle Lehrer Lederriemen, Rohrstöcke und Schwarzdornzweige. Damit schlagen sie einen auf die Schultern, den Rücken und auf die Hände. Wenn sie einen auf die Hände schlagen, nennt man das einen Tatzenhieb. Sie schlagen einen, wenn man zu spät kommt, wenn die Feder vom Federhalter tropft, wenn man lacht, wenn man redet und wenn man was nicht weiss.»

Dieses Buch ist eine Wucht. Nur wer das selber erlebt hat, kann so darüber schreiben. Die Geschichte des kleinen Frank hat mich richtig mitgerissen. Und wichtig: Es ist überhaupt kein Sozialkitsch.

Cover mit jungenm Knaben, der uns direkt anschaut.
Legende: «Dieses Buch ist eine Wucht. Nur wer das selber erlebt hat, kann so darüber schreiben.» SRF/Susanne Sturzenegger

Sendebezug: laufendes Programm Radio SRF 1

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