Pflegende Angehörige sind gefordert. Insbesondere jene, die ein Familienmitglied mit Demenz betreuen. Der Alltag geht über Jahre weiter, obschon von Alltag keine Rede mehr sein kann.
In der Schweiz leben 156'000 Personen mit einer Demenz. Natalie Hamela, Fachberaterin Demenz bei Alzheimer Bern, berät unter anderem Angehörige, die an den Anschlag kommen.
SRF: Danke sagen, ist schön – den pflegenden Angehörigen hilft das jedoch nicht wirklich. Was bringt der heutige Tag?
Natalie Hamela: Es ist ein Tropfen auf den heissen Stein. Aber es ist dennoch ganz wichtig, dass es diesen Tag gibt, um die Situation ins Bewusstsein der Menschen zu rufen.
Was macht den Alltag von betreuenden Angehörigen so schwer? Womit ist man zum Beispiel am Morgen konfrontiert?
Es kann sein, dass man um 8:30 Uhr einen Termin beim Arzt hat und die Zeit bis dahin vorne und hinten nicht reicht, weil die demente Person viel langsamer ist. Sie wird sich vielleicht auch weigern, aufzustehen. Die Anweisungen des Partners werden möglicherweise als Befehl verstanden, sie wird vielleicht eine Handlung verweigern und das verzögert alles. Oder der betroffene Mensch kann die Kaffeemaschine nicht mehr bedienen und schimpft, weil sie kaputt ist. Die Person ist frustriert über den Misserfolg und der pflegende Angehörige muss das auffangen. Das bedeutet Stress.
Die Nächte sind auch nicht erholsam für die betreuende Ehefrau oder den betreuenden Ehemann. Ich gehe davon aus, wenn man rund um die Uhr da sein muss, da kommt man rasch an den Anschlag?
Partner und Partnerinnen, die 24 Stunden, sieben Tage die Woche die Situation tragen, fangen ganz viel auf. Nicht vergessen darf man das Emotionale. Der Partner ist nicht mehr der Gleiche, er verändert sich und da kommt ein Trauerprozess in Gang. Man hat sich das gemeinsame Alter anders vorgestellt – nebenbei muss man funktionieren und für zwei denken und handeln. Alles, was ich für den Partner übernehmen möchte, wird vielleicht von ihm verweigert, weil er sich bevormundet fühlt. Das ist ein Spannungskonflikt, der auch zu Problemen führt.
Ein freier Tag ist für betreuende Angehörige ganz wichtig und wertvoll.
Es gibt Entlastungsangebote für betreuende Angehörige, zum Beispiel eine Tagesstätte für die kranke Person. Was bringt ein solches Angebot?
Es bringt Freiraum für die eigenen Bedürfnisse. Die lässt man ja völlig links liegen in der Alltagsbegleitung. Man muss immer schauen, welche Bedürfnisse der andere gerade hat, was er braucht und was ich tun kann. Sonst kann die Situation auch mal eskalieren. Ein freier Tag ist für betreuende Angehörige ganz wichtig und wertvoll.
Heute ist der Tag der betreuenden Angehörigen. Was kann man an den anderen 364 Tagen im Jahr Gutes tun? Können zum Beispiel Nachbarn oder Verwandte eine Hilfe sein?
Unbedingt. Das eigene Netzwerk, die persönlichen Beziehungen sind sehr, sehr wertvoll. An erster Stelle, bevor man zu Fachexperten geht, steht das eigene Umfeld. Das heisst Angebote machen. Wenn ich ein Freund oder eine Freundin bin oder ein Nachbar, sollte man den anderen wirklich ansprechen: «Du, ich sehe, dass es ganz viel ist, was ihr da im Alltag macht. Ich kann dir gerne etwas abnehmen.» Und man sollte konkrete Angebote machen. Wie schnell sagt es sich: «Ich bin da, ruf mich an.» Das wird nicht gemacht. Das heisst, man muss konkrete Angebote machen.
Das Gespräch führte Stefan Siegenthaler.