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Hansruedi Liechti erlebte die Deutsche Mannschaft vor 70 Jahren hautnah
Aus Radio SRF 1 vom 03.07.2024.
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Das sind no Ziite gsi «Man war für Ungarn»: Erinnerungen an das «Wunder von Bern» 1954

Hansruedi Liechti spielte mit der deutschen Mannschaft in Spiez Tischtennis. Martial Sialm verhinderte, dass Radioreporter Herbert Zimmermann sich verletzte. Und Charles Tschumi verdiente sich dank durstiger Fussballfans im Wankdorf eine goldene Nase. Hier erzählen sie ihre Geschichten.

Am 4. Juli 1954 wird in Bern Geschichte geschrieben. Im Finale der Fussballweltmeisterschaft siegt die Bundesrepublik Deutschland überraschend gegen Top-Favorit Ungarn. Das «Wunder von Bern» ist für die Deutschen bis heute ein entscheidendes Ereignis.

Das «Wunder von Bern»

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Sportlich gesehen spricht beim WM-Finale am 4. Juli 1954 nichts für die Fussballmannschaft der Bundesrepublik Deutschland.

Gegner Ungarn hat seit 1950 kein Spiel mehr verloren und hat die Deutschen im Achtelfinal des Turniers mit 8:3 dominiert. Den Deutschen gelingt es jedoch, im strömenden Regen einen 0:2-Rückstand aufzuholen. Und sechs Minuten vor dem Ende platziert Helmut Rahn dann mit dem 3:2 den Siegestreffer.

Der unerwartete Titel weckt Deutschland aus einer Art kollektiven Depression. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Bundesrepublik wirtschaftlich, politisch und auch moralisch am Boden. Nun ist man plötzlich «wieder wer». Der Weltmeistertitel und die Heimkehr der Fussballer wird im ganzen Land mit einer riesigen Euphorie gefeiert. Manchen Historikern gilt der WM-Titel daher gar als die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Das «Wunder von Bern» ist in Deutschland bis heute unvergessen.

Aber auch viele Schweizerinnen und Schweizer verbinden mit diesem historischen Fussball-Moment nach wie vor lebhafte Erinnerungen.

Der Radiotechniker, der Reporter Zimmermann ganz nahe kam

Betagter Mann mit Brille und blau-grau gestreiftem Hemd.
Legende: Auch 70 Jahre nach dem WM-Final erinnert sich der 92-jährige Martial Sialm noch genau an die Stimmung in der Radiokabine. SRF

Für Fussball interessiert sich der heute 92-jährige Martial Sialm 1954 überhaupt nicht. Der SRF-Zeitzeuge arbeitet damals als Techniker beim Radio in Genf und wird für das Finalspiel im Berner Wankdorf-Stadion eingeteilt.

Seine Aufgabe während dem Spiel ist es dann, den Radio-Reporter der Bundesrepublik Deutschland zu betreuen. Reporter Herbert Zimmermann fragt ihn gleich zur Begrüssung, wer das Spiel gewinnen wird. «Ich sagte, ihr Deutschen gewinnt! Da sagte er: ‹Jetzt ist klar, Sie verstehen nichts von Fussball! Aber wenn wir gewinnen, gebe ich ihnen eine Flasche Wein›».

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Martial Sialm erinnert sich an den Final mit Herbert Zimmermann
aus Audio SRF 1 vom 04.07.2024. Bild: zvg / Martial Sialm
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Sialm willigt ein, testet die Leitung nach Frankfurt und schon geht die Übertragung los. Die beiden haben kaum Platz in der winzigen Übertragungskabine. Herbert Zimmermann wünscht, dass Sialm die hochkippbare Fensterfront öffnete. «Ich sagte ihm noch, er solle aufpassen. Wenn er aufstehe, schlage er den Kopf an der Scheibe an».

Zwei Fussballspieler kämpfen um einen Ball.
Legende: Der deutsche Spieler Helmut Rahn spurtet mit dem Ball am ungarischen Spieler Mihaly Lantos vorbei. Rahn schiesst später den Siegestreffer. Keystone/Photopress-Archiv

Sialm ist beeindruckt, dass Zimmermann alle Spieler kennt und fortlaufend das Geschehen präzise kommentiert. Er muss dabei stets die Lautstärke im Blick behalten, denn der Reporter wird in spannenden Momenten jeweils plötzlich lauter.

Auf die Flasche Wein warte ich noch heute.
Autor: Martial Sialm Radiotechniker beim WM-Final 1954

Das klappt einigermassen gut, bis sechs Minuten vor Schluss. «Als das Goal nahte, sprang er auf. Ich konnte ihn gerade noch am Ärmel packen, damit er nicht den Kopf anschlägt. Gleichzeitig musste ich wahnsinnig die Regler zurückdrehen, damit nicht alles übersteuert wurde und die Übertragung noch lief.» Zimmermann schreit förmlich ins Mikrofon. Seine «Tooor, Tooor, Tooor!»-Rufe beim 3:2-Siegestreffer sind bis heute unvergessen.

Ein Fussballspieler mit Pokal wird in einem vollen Stadion von Menschen in die Höhe gestemmt.
Legende: Nach dem Sieg werden der deutsche Kapitän Fritz Walter und Trainer Sepp Herberger von begeisterten Anhängern vom Spielfeld getragen. Keystone/Photopress-Archiv

Auch danach muss Sialm ihn nochmals ruckartig auf den Stuhl zurückziehen, weil der Reporter kaum mehr zu halten ist vor lauter Anspannung. «Als dann der Schlusspfiff kam, war er nicht mehr zu halten und stürmte weg, um Interviews zu machen», erinnert sich Sialm. «Auf die Flasche Wein warte ich heute noch», fügt er lachend an. Er habe Zimmermann nie mehr gesehen.

Der erfolglose Autogrammjäger

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Der Migros-Wagen: Eine Verkäuferin erinnert sich
Aus Radio SRF 1 vom 16.04.2024.
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Während Martial Sialm für die gute Radioqualität sorgt, verfolgt SRF-Zeitzeuge Hansruedi Liechti den WM-Final vor 70 Jahren zu Hause in Spiez am Radio. Zur deutschen Mannschaft hat der damals Neunjährige ein ganz besonderes Verhältnis. Liechti wächst einen Steinwurf neben dem Hotel Belvédère in Spiez auf, wo die Deutschen sich während der WM in der Schweiz einquartieren. «Ich war als Bub ständig im Belvédère, half in der Gärtnerei oder im Office». Als er die Fussballer dann im Garten sieht, geht er interessiert hin und beobachtet, wie die Herren sich amüsieren.

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WM 1954: Das «Wunder von Bern»
Aus Sport-Clip vom 16.06.2020.
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Einige albern rum, einige spielen locker Fussball und drei spielen Tischtennis. Da sagt einer: «Komm, spiel mit!». So kommt es, dass Liechti fortan ab und an mit Spielern der Bundesrepublik Deutschland Tischtennis spielt und sich mit ihnen unterhält. Wobei er nie weiss, wer eigentlich wer ist. «Sie hatten Einheitstrainer ohne Namen und ich war zu schüchtern, sie nach dem Namen zu fragen.»

Vier Herren im Anzug posieren in einem Garten.
Legende: Die deutschen Spieler Eckel, Turek, O. Walter und Morlock posieren im Mai 1954 im Garten ihrer WM-Unterkunft in Spiez. Keystone/Photopress-Archiv

Gerne hätte Liechti auch ein Autogramm, doch er traut sich nie, den Zettel und den Stift aus dem Hosensack zu ziehen. Als er endlich den Mut zusammennimmt und zwei der Herren fragt, sagen diese lachend, dass sie der Arzt und der Assistenz der Mannschaft seien und keine Autogramme geben. So hat er bis heute kein Andenken an diese Zeit.

Keine Security, keine Fans, kein Medienrummel

Vor den Spielen beobachtet Liechti jeweils, wie Trainer Sepp Herberger mit der Mannschaft an den Strandweg geht, um die von ihm geformte Truppe auf die nächste Herausforderung einzuschwören. Da sei vermutlich der Geist von Spiez geformt worden, mutmasst Liechti.

Den guten Geist von Spiez bezeichnet unter anderem Kapitän Fritz Walter später mehrfach als entscheidend für den Erfolg von 1954. Noch heute erinnern beim Hotel Informationstafeln mit historischen Fotos an die Zeit der Deutschen im Hotel am Thunersee. Und noch heute reisen Fans der deutschen Elf, aber auch andere Mannschaften, ins Hotel Belvédère, um den Geist von Spiez aufleben zu lassen. Vor der diesjährigen Fussball-Europameisterschaft waren beispielsweise ranghohe Vertreter des Deutschen Fussball Bundes vor Ort.

Männer im Anzug auf Treppe vor Gebäude.
Legende: Ein Gruppenfoto vor dem Hotel Belvédère in Spiez. Hier schweisst der Trainer die Mannschaft zusammen. Und noch heute wird hier ein Foto der Deutschen in Ehren gehalten. Keystone/Photopress-Archiv

1954 ist dagegen kein Interesse an den deutschen Fussballgästen spürbar, so Liechti. Es gibt keine Security, keine Fans, kein Auflauf von Journalisten ums Hotel. Und auch die Spiezer nehmen die Anwesenheit der Deutschen zunächst kaum wahr.

Man war damals einfach mehr für Ungarn.
Autor: Hansruedi Liechti 79-Jähriger Zeitzeuge aus Spiez

Das ändert sich natürlich, als die Deutschen am 4. Juli 1954 überraschend Weltmeister werden. Hansruedi Liechti selbst drückt trotz der positiven persönlichen Kontakte eher den Ungarn die Daumen. So sei es im ganzen Dorf gewesen. «Man war damals einfach mehr für Ungarn, sie waren am besten». Da habe neben dem sportlichen wohl auch der Krieg noch nachgeklungen, vermutet er rückblickend. Er habe von den Erwachsenen gegenüber den Deutschen stets eine Skepsis und Zurückhaltung gespürt.

Sein Vater hat vor 70 Jahren auch darüber hinaus wenig Freude am Weltmeistertitel der Deutschen. Er arbeitet im Telegrafenbüro beim Bahnhof Spiez. Die zwei Telex-Maschinen rattern unaufhörlich nach dem Sieg im Final in Bern. «Es kamen weit über 100 Telegramme. Sie haben fast die ganze Nacht durchgearbeitet, weil ein Telegramm nach dem anderen hereinkam. Er ist ständig mit dem Velo hin und her gefahren, zwischen dem Bahnhof auf dem Hügel und dem Hotel am See. Das war ein Chrampf.»

Mann schüttelt aus Zugfenster eine Hand. Ein anderer Mann im Zug hält einen Pokal in die Höhe.
Legende: Auf der Rückreise müssen die Fussball-Helden in Deutschland überall Hände schütteln und Gratulationen entgegennehmen. Hier am 5. Juli 1954 auf dem Bahnhof in München. Keystone/Photopress-Archiv

Sein Vater ist darum vermutlich einfach nur froh, als die Deutschen nach dem Weltmeistersieg wieder abreisen. Da sei dann doch noch ein grosser Auflauf gewesen, erinnert sich Liechti. «Das war eine Riesensache. Alle wollten die Weltmeister sehen. Der ganze Bahnhof war voll mit Leuten. Viele hatten Fähnchen». Noch heute sieht er den weinroten Zug mit der Aufschrift Fussball-Weltmeister 1954 vor sich, aus dem die Spieler winken.

Der Bierverkäufer, der nichts vom Wunder mitbekam

Von der beklatschten Abreise aus der Schweiz noch einmal zurück zum Anpfiff des Finalspiels im Wankdorf-Stadion. Dort dabei ist auch SRF-Zeitzeuge Charles Tschumi.

Älterer Mann lächelt im Freien.
Legende: Charles Tschumi half seinem Onkel am 4. Juli 1954, im Wankdorf Bier zu verkaufen. ZVG

Der heute 87-Jährige ist damals noch in der Stifti zum Maurer, wie er sagt. Für Fussball interessiert er sich nicht sonderlich. Wohl aber für ein zusätzliches Sackgeld. So kommt es, dass er seinem Onkel am 4. Juli 1954 hilft, im Wankdorf Bier zu verkaufen.

Es war ein ganz guter Tag, auch wenn es schiffte, was es runterschiffen konnte.
Autor: Charles Tschumi Bierverkäufer beim WM-Final 1954

«Wir hatten unterhalb der grossen Uhr, in der Nähe einer Stehrampe unser Depot». Und dieses Depot sucht er an diesem Tag unzählige Male auf. «Wir hatten so Holzträgerli, in die passten 10 Fläschchen Bier. Man füllte die Trägerli im Depot und ging damit in die Rampe raus und verkaufte die Fläschli.» Etwa 3 Franken kostet eine Flasche Bier damals. «Nur hatten die wenigsten der vornehmlich deutschen Fans in der Stehrampe Franken dabei. So zahlten sie jeweils fünf Mark für eine Flasche. Das war natürlich prima, ich habe sehr gutes Trinkgeld gemacht,» so Tschumi lachend.

Als sie den Titel holten, ging es ab wie die Feuerwehr.
Autor: Charles Tschumi Bierverkäufer beim WM-Final 1954

Vom Spiel selbst bekommt der Jugendliche kaum etwas mit. Er achtet nur auf das Publikum. Die Deutschen hätten trotz Regenwetter grossen Durst gehabt, gibt er zu Protokoll. «Als die Deutschen dann in Führung gingen, wurde es noch schlimmer, und als sie den Titel holten, ging es ab wie die Feuerwehr».

Jubelnde Fans die sich z.T. umarmen.
Legende: In einer Regenpause jubeln die Fans beim WM-Final am 4. Juli 1954. Auch Bier wird fleissig getrunken, wie Zeitzeuge Charles Tschumi weiss. KEYSTONE/Walter Studer

Auch nach der Pokalübergabe feiern zunächst noch Deutsche im Stadion weiter. Da sitzen er und seine Kollegen schon im Restaurant des Stadions und rechnen die Einnahmen des Tages ab.

Tschumis Bilanz dieses Tages fällt, dank Trinkgeld und Mark-Bonus, unabhängig vom Spielausgang durchwegs positiv aus. «Das war ein ganz guter Tag, auch wenn es durchgängig geschifft hat, was es runterschiffen konnte». Als er dann spätabends nach Hause läuft, ist alles ruhig und vom «Wunder von Bern» schon nichts mehr zu spüren.

Radio SRF 1, 3. Juli 2024, 17:20 / fism

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