Mareike Nieberdings Geschichte hat mich auf den ersten Blick null interessiert. Aber das Bild auf dem Buch-Cover hat mich an meinen eigenen Vater erinnert. An ein Foto, auf dem man sieht: auch ich war mal ein Papakind.
Also habe ich zu lesen begonnen und bin in einen Flow gekommen. Schon die ersten Sätze ziehen mich rein. Die Autorin schreibt klar, direkt. Und was sie zu erzählen hat ist echt.
«Er hat mich nicht geweckt. Aber seine Geräusche im Bad. Auch zehn Jahre nach meinem Auszug erkenne ich noch jedes Geräusch im Haus meiner Eltern – den energischen Gang meiner Mutter, ihre klatschenden Tritte auf der Steintreppe. Ich höre, ob sie rauf- oder runtergeht. Ob mein Bruder die Tür vom Bad schliesst (mit einem dumpfen Rums) oder mein Vater (mit tief runtergedrückter Klinke, sodass man ganz leise das Schloss einhaken hört). Jedes Familienmitglied hat seinen eigenen Sound.»
Den Familiensound kenne ich. Langsam steigt er aus meinem Unterbewusstsein hoch. Und das ist Mareike Nieberdings Stärke. Sie weckt Erinnerungen bei mir. Lässt mich meine eigene Familiengeschichte reflektieren. Und auch ich wünsche mir eine gemeinsame Gegenwart mit meinem Vater. So wie Mareike.
Daumen rauf
- Verjüngungskur. Für vier Stunden haben sich meine Stirnfalten geglättet. Danke Mareike Nieberding, für diese luftig zarte und leichte Lektüre!
- Mareike Nieberding schreibt nahe am Leben. Die Autorin bringt auf den Punkt, was Familie heisst und was sie zusammenhält.
- Keine verklärte Vaterliebe. Sonst hätte «Ach, Papa» «O mein Papa» blabla, blabla, lalalala heissen müssen.
- Nicht nur Tochter-Vater-Geschichte. Sondern auch Familienchronik, Zeitdokument und Emanzipationsgeschichte. Eine junge, selbstbewusste Frau im Lichte unserer Zeit: «Ich wuchs mit den Bildern von 9/11 auf, mit den in Aschestaub gehüllten Menschen, die um ihr Leben rannten, den brennenden Türmen,» ODER «Und meiner Generation zeigt gerade Donald Trump, dass das Unmögliche immer noch möglich ist, und zwar im Negativen.»
- Mareike Nieberding hat sich vom Kinofilm «Toni Erdmann» inspirieren lassen. Ein grossartiger Film, in dem ein Vater auf absurd witzige Weise seine Tochter zwingt, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Das Filmplakat hängt in meiner Küche. Nieberding schreibt: «Mein Toni-Erdmann-Moment war der Anfang der Reise, die ich für dieses Buch unternommen habe. Der Reise zu meinem Vater. Weil ich kein Familienweh mehr haben will. Diese Mischung aus Heimweh und Wegwollen.»
Daumen runter
- «Ach, Papa» hätte das Zeug zu einem literarischen Überflieger. Ist aber keiner. Die Geschichte ist zu wenig stringent erzählt. Die Autorin packt zu viel rein. Sie schweift ab, anstatt sich auf die 630 Kilometer lange Autoreise mit ihrem Vater zu fokussieren. Und entlang dieser Reise ihre Beziehung zu ihm aufzudröseln. «Ach, Mareike!»
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Die Autorin
Mareike Nieberding, geboren 1987 in Damme, hat in Berlin und Paris Literaturwissenschaft und Publizistik studiert. Sie lebt in Hamburg. Seit der Ausbildung zur Redakteurin schreibt sie u.a. für Die Zeit und Der Spiegel. Nach der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA hat sie die Jugendbewegung DEMO gegründet.
Das Buch: Mareike Nieberding: «Ach, Papa» (2018, suhrkamp nova)
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