Mayday! Wer dieses Buch liest, gerät in Seenot. Denn in Anja Kampmanns Roman «Wie hoch die Wasser steigen» brüllt und tost der Atlantische Ozean:
«Die Stürme dort draussen sind nicht für Menschen gemacht. Würde man aus grosser Ferne herankommen, so wäre es lange Zeit dunkel, die Wellenberge schluckten den Regen, schluckten die Blitze, es würde riechen nach Metall und Salz, aber niemand ist da, der etwas riechen könnte.»
Huii. Nichts für mich diese Wellen. Aber Kampmanns Romanfigur ist solche See gewohnt. Ölbohrarbeiter Waclaw, 50, arbeitet auf einer Ölplattform, die vor der Küste Marokkos liegt. Zusammen mit seinem besten Freund. Doch dann kommt dieser von einer Nachtschicht nicht mehr zurück. Ein heftiger Sturm hat ihn ins Meer gefegt.
Waclaw steht unter Schock. «Alles, was folgte, schien überklar und dennoch verwackelt, Bilder, ausgefranst, an den Rändern nicht fassbar.» Taub vor Trauer kriegt er einige Tage frei. Und reist nach Ungarn, um den Seesack seines toten Freundes zu dessen Halbschwester zu bringen. Doch auf der Reise verliert Waclaw jeden Halt und muss sich neu finden.
Daumen rauf
Dieser Roman überflutet mich:
- Wegen der Sprache. Wie die Autorin das Schöne, Raue und Grausame des Atlantiks einfängt. Aber auch die Atmosphäre in der marokkanischen Hafenstadt Tanger, die Waclaw und seinem Freund als Rückzugsort dient.
- Wegen Kampmanns präzisen und ungewöhnlichen Sprachbildern. Wenn die Autorin beispielsweise beschreibt, wie die Arbeiter ihre Seesäcke hieven. Und dafür folgende Worte findet: «Eine Tasche, so gross wie ein Schweinswal oder ein ausgestopftes Wildschwein.»
- Wegen der Intensität der Themen. Tod, Trauer, Verlust, Freundschaft, Liebe und Suche nach dem Ort, wo man zu Hause ist.
- Wegen des Reizes des Fremden. Die Welt der Ölbohrarbeiter imponiert mir. Diese hartgesottenen Männer, die von Plattform zu Plattform ziehen und ständig ein Leben am Limit führen. Schichten um Schichten schieben. Und dann ihre Einsamkeit und Erschöpfung mit Alkohol und Frauen wegspülen. Arrgh!
- Wegen dieses Taubheitsgefühls, das sich beim Lesen einstellt. Anja Kampmann gelingt es, Waclaws Trauer physisch erlebbar zu machen. Das ist grosses Kino.
Daumen runter
- «Wie hoch die Wasser steigen» liest sich wie ein Mosaik, das unter Wasser liegt und dessen Steinchen weit auseinander liegen. Alles wirkt leicht verschwommen. Ich verliere manchmal den Überblick. Das ist ärgerlich.
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Die Autorin
Anja Kampmann, 1983 in Hamburg geboren, lebt in Leipzig. 2013 erhielt sie den MDR-Literaturpreis, 2015 den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis beim Literarischen März in Darmstadt. Bei Hanser erschien 2016 ihr Gedichtband «Proben von Stein und Licht».
Das Buch: Anja Kampmann: «Wie hoch die Wasser steigen» (2018, Hanser)
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