Schade! Dieses Buch hat mich so lange mitgerissen. Und dann: diese kläglich schlaffen, staubtrockenen letzten Kapitel! Das hat mich wütend gemacht. So wie im übrigen auch die Protagonisten von Chris Kraus in «Das kalte Blut» wütend sind.
Wut ist der Motor, der sie antreibt. Ev, eine Jüdin, die grosse Liebe von Hubert und Koja Solm. Zwei deutsch-baltische Brüder aus Riga. Söhne aus adligem Haus.
Deren Grossvater war Baron. Die Mutter kannte die Romanows. Hochadel. Bis die Bolschewiken in Riga einmarschieren. Dann sozialer Abstieg. Um die Familie zu ernähren, machen die beiden Söhne Nazi-Karriere. Der eine ist Hardcore-Nazi, der andere erst Mitläufer. Dann handelnder Täter. Wegen fehlender Perspektiven.
Ein historischer Spionage- und Kriegsroman hart an der Realität. Nur ein kleiner Teil davon sei erfunden, schreibt Chris Kraus. Und nur wenige der auftretenden Personen. Und schon gar nicht die Verrücktesten. So wie Heinrich Himmler, Reichsführer der SS. Koja berichtet:
«Sehr gerne hielt Himmler immer wieder Vorträge über seine geliebte SS. Einmal erklärte er mir, dass für diesen heiligen Orden Männer nordischen Blutes gebraucht würden, die intelligent und intolerant seien. Das sei das Allerwichtigste. Ob ich intelligent und intolerant genug wäre, das sei die Frage. Zu meiner Intelligenz könne ich nichts sagen, entgegnete ich, denn die läge durchaus im Auge des Betrachters. Was jedoch die Intoleranz anginge, so hätte ich in den letzten Wochen beträchtliche Fortschritte gemacht. Himmler grunzte zufrieden.»
Daumen rauf
- «Das kalte Blut» liest sich wie eine amerikanische Secret-Agent-Serie: Politik, Spannung, Action, Liebe. Und verdammt gute Cliffhanger. Ein Pageturner eben.
- Living History. Ich werde mitten in den 2. Weltkrieg hinein katapultiert. Das ist heftig. Da bebt die Erde.
- Kraus schreibt gegen das menschliche Kurzzeit-Gedächtnis an. Er zeigt am Nationalsozialismus auf: Das System ist stärker als das Individuum. So was von deprimierend.
- Provokant: Der Roman ist aus der Täterperspektive geschrieben. Das schafft Nähe und Sympathie. Das ist das Schlimme. Kraus wirft Tabufragen auf und sucht Erklärungen für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Er charakterisiert seine Figuren als selbstsüchtige Egomanen. Solche, die aus Liebe morden. Das geht unter die Haut.
- Dieses Buch ist autenthisch. Chris Kraus schreibt gegen seine eigene vertrackte Familiengeschichte an. Er will seinen Grossvater verstehen. Ein SS-Sturmbannführer. Hat Juden umgebracht. So wie Koja Solm, der Ich-Erzähler.
- Überraschend und originell: Das Setting der Geschichte: Wir haben 1974. Koja Solm ist 65 Jahre alt. Liegt mit einem Kopfschuss in einem deutschen Spital. Neben ihm ein junger, spiritueller Hippie. Ein Swami. Ein religiöser Guru. Auch er mit einem Loch im Kopf. Und ihm erzählt nun Koja sein Schicksal. Grund: Er will Absolution.
Daumen runter
- Die Story ist zu lang. Sackt am Ende ab. Zu viele Fakten. Da hätte Kraus rigoros kürzen müssen. Das hat er nicht getan. Das macht mich wütend. Die Geschichte verliert dadurch an Kraft. Alles muss hinein: Die Organisation Gehlen und die Entstehungsgeschichte des Bundesnachrichtendiensts. Die Verstrickungen mit Mossad, CIA und KGB. Die Jagd auf alle Nazi-Verbrecher, die der Strafverfolgung entgangen sind. Ächz.
- Mein Lese-Tipp: Ab Seite 766 überfliegen. Und dann gleich ins dramatische Finale einsteigen auf Seite 1156.
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Der Autor
Chris Kraus, geboren 1963, ist Filmemacher und Schriftsteller. «Das kalte Blut» ist sein zweiter Roman. Und übrigens: Seinen Film «Die Blumen von gestern» muss man unbedingt sehen. Auch da geht es um Juden und Nazis aber aus der Perspektive eines Enkels und einer Enkelin. Grandios.
Das Buch: Chris Kraus: Das kalte Blut (2017, Diogenes)