Ohne Ermutigung hätte ich «Mein Ein und Alles» von Gabriel Tallent niemals gelesen. Eine solche brutale Horror-Story! Doch schon nach wenigen Sätzen verstehe ich Philippe Djians Begeisterung. Der französische Starautor hat mir bei einem Abendessen verraten, dass er nur Bücher lese, die er selbst auch gern schreiben würde. Und das Buch von Gabriel Tallent sei ein solches, das ihn inspiriert habe: wegen der unkonventionellen Heldin, der Machart und der Sprache.
Turtle (14) lebt mit ihrem Daddy in einem abgeschiedenen, alten Haus auf einem Hügel in der Nähe von Mendocino, an der wilden Nordküste Kaliforniens. Rundum erstrecken sich dichte, einsame Urwälder mit Mammutbaumriesen. Vom Haus sieht man runter auf den Pazifik. Rau rollt die See. Gischt, Nebel, Klippen, Felsen. Eine Szenerie wie in Schottland. Düster, apokalyptisch.
Turtle und ihr Vater lieben die Wildnis und die Abgeschiedenheit. Sie sind ein Team, das zusammenhält. Er ein harter Typ: liebt Waffen, schiesst, spielt, trinkt. Sie eine hardcore Ninja-Kriegerin im Military-Look: gross, fohlenhaft, sehnig. Ein zorniges, kampferprobtes Mädchen. Jeden Abend trainiert sie. Macht Klimmzüge, Schiessübungen, zerlegt und putzt ihre Waffe. Ihre Mitschülerinnen fürchten und bewundern sie. Doch nicht alles ist so toll, wie es den Anschein hat. Daddys Erziehungsmethoden sind grausam. Dazu gehört auch rohe, sexuelle Gewalt. Die soll Turtle abhärten und auf die böse Welt da draussen vorbereiten. Aus Angst, Abhängigkeit und Liebe macht Turtle mit. Bis sie sich in einen Jungen verliebt und erkennt, was wahre Freundschaft ist.
Daumen rauf
- Dieser Roman ist «a hell of a thing». Ein Psycho-Thriller, ein Splatter, ein Entwicklungsroman, eine Vater-Tochter-Geschichte, eine Milieu-Studie, eine Gesellschaftsanalyse des trumpianischen und waffenbegeisterten Amerikas. Und: Tallent geht überall in die Tiefe, regt an und auf. Sagenhaft.
- Gewaltige Szenerie, gewaltiger Showdown. Wie Tallent den Pazifik, die Wildnis und Turtles Überlebenskampf beschreibt. Das ist echt, das geht unter die Haut. Ich bin noch immer ganz benommen davon.
- Psychologisches Meisterwerk. Tallent schreibt so, dass ich weiss, wie Turtle denkt. Ich sehe, wie sie von ihrem Vater hirngewaschen ist. Wie Misogynie und Selbsthass sie zerfressen, weil sie von ihm hart angepackt, erniedrigt und sexuell missbraucht wird. Doch dann passiert etwas. Und ich werde Zeuge, wie bei Turtle ein Umdenken einsetzt. Wie sie langsam realisiert, dass ihr Vater ein böser Mensch ist. Doch, um ganz sicher zu sein, stellt sie ihn auf die Probe. Liefert sich ihm aus. Dabei erleidet sie Schrecklichstes, um dann wie ein Phönix aus der Asche zu steigen. Yeah, it's Ninja time!
- Reiche Sprache, cooler Sound. Tallent schreibt detailgenau ohne zu überfrachten. Als Beispiel die Szene im Buch, wo Turtle in einer Quelle baden geht und dort ihren ganz eigenen, kalten Trost findet: «Sie hält den Atem an, lässt sich auf den Grund sinken, zieht die Knie zu den Schultern hoch. Ihre Haare schweben wie Seegras um sie herum, und sie öffnet im Wasser die Augen und schaut nach oben und sieht die sich auf der regengesprenkelten Oberfläche abzeichnenden Umrisse sich aalender Molche mit ihren gespreizten Zehen. Sie sind gekrümmt, verzerrt, trüb, wie es Dinge unter Wasser sind, und die Kälte tut ihr gut, sie bringt sie zu sich selbst zurück. » Tallent abeitet aber auch mit Wiederholungen, die seinem Text Klang und Struktur geben. So beschreibt er immer wieder wie sich Turtles Vater ein Bier aus dem Kühlschrank holt und es an der Kante der Arbeitsplatte aufschlägt. Oder er sagt zu Turtle in wiederkehrenden Variationen, dass sie sein «Ein und Alles» ist: «Verstehst du, was du mir bedeutest? Jedes Mal, wenn du morgens aufstehst, rettest du mir das Leben. Ich höre deine kleinen Füsse die Treppe herunterkommen und denke: Das ist mein kleines Mädchen, das ist es, wofür ich lebe.»
Daumen runter
Nothing. Aber vielleicht ist «Mein Ein und Alles» für manche zu hart, zu brutal. Doch diese Gewaltbeschreibungen braucht es. Sie machen Turtles Überlebenskampf nachvollziehbar.
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Der Autor
Gabriel Tallent ist 1987 in New Mexiko geboren. Er wuchs in der Nähe von Mendocino mit zwei Müttern auf. Nach seinem Universitätsabschluss 2010 führte er zwei Sommer lang Gruppen mit Jugendlichen durch die Wildnis der nordpazifischen Küste. Gabriel Tallent lebt heute in Salt Lake City.
Das Buch: Gabriel Tallent: «Mein Ein und Alles» (2018, Penguin Verlag)
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