Ich habe «Serotonin» zwischen Weihnachten und Neujahr gelesen. In aller Abgeschiedenheit, auf einem einsamen Winter-Camping im Schnee, wo man in der Silvesternacht mit den Hirschen röhrt und in leiser Wehmut über das Vergangene und Zukünftige nachdenkt.
Perfektes Setting für den neuen Houellebecq. Denn auch die Hauptfigur Florent-Claude Labrouste, 46, Agronom, verbringt die Zeit zwischen den Jahren in absoluter Einsamkeit. Zwar nicht in einem Camper im Engadin, dafür in einem Bungalow in der Normandie.
Sein Grund: Bilanz ziehen nach Beziehungsaus. Seine um Jahre jüngere japanische Freundin Yuzu hatte in seiner Abwesenheit Sex-Orgien in seiner Wohnung gefeiert. Als er ihr auf die Schliche kommt, kündet er Wohnung, Job und verschwindet.
Florent-Claude zieht Bilanz. Erkennt, dass er im Job und in der Liebe gescheitert ist. Er sackt ab, wird depressiv. Einzig Captorix kann da noch helfen. Ein Antidepressiva auf Serotonin-Basis, höchstdosiert: «Eine kleine weisse, ovale, teilbare Tablette. Sie erschafft nichts, und sie verändert nichts; sie interpretiert. Was endgültig war, lässt sie vergehen; was unumgänglich war, macht sie unwesentlich. Mithin hilft sie den Menschen zu leben oder zumindest nicht zu sterben – über eine gewisse Zeit hinweg.»
Doch der Tod lauert. Mit Captorix stirbt Florent-Claudes sexuelle Lust. Ohne Sex, ohne «feuchte Muschis und einen Schwanz der sich aufrichtet» ist für ihn das Leben sinnlos. «Im Zustand in dem das alternde, sterbende und sich vom Tod erfasst fühlende Tier ein Lager sucht, um sein Leben zu beschliessen», will er all die Frauen nochmals wiedersehen, die er einst geliebt hat. Claire, Kate, Camille.
Daumen rauf
- So noch nie gelesen. Eine Liebesgeschichte, krank, abartig, berührend, erschütternd.
- Aktuell & zeitkritisch. Houellebecq ist ein präziser Beobachter. Er weiss, wie es um Frankreich, um Land und Leute steht. Wie sich das Blatt am Ende immer zugunsten des Freihandels, des Produktivitätswettstreits, der Leistungsorientierung wendet. Florent-Claudes bester Freund Aymeric d'Harcourt-Olonde wird Opfer davon. Ein aristokratischer Milchviehzüchter aus der Normandie. Wegen der EU-Milchpolitik kommt er ins Strudeln. Als in Brüssel über die Abschaffung der Milchquote diskutiert wird, führt er Proteste an, bei denen es Tote gibt. Er selbst schiesst sich für seine Ideale eine Kugel in den Kopf. Florent-Claude realisiert mit Abscheu, dass dieser Suizid vermutlich Zustände ändern wird, wo alles andere versagt hat. Namentlich seine eigenen Bemühungen als Agronom im Dienste des französischen Staates. Brandaktuelle Thematik. Stichwort «Gilets Jaunes».
- Anregend. Houellebecq denkt gegen den Strich und provoziert damit. Jagt mich auf die Palme. Zwingt mich Dinge aus einem anderen Blickwinkel anzuschauen. Das aktiviert meine Hirntätigkeit und bringt mich auf neue Gedanken.
- Meister der Provokation. Houellebecq ist so bissig-bitter-böse, dass es schon fast wieder komisch ist. Zum Beispiel in folgender Szene: Florent-Claude stösst mit seiner reichen Freundin Yuzu in der Küche zusammen und rempelt sie an: «‹Aus dem Weg, fette Schlampe›, bevor ich mir den Bierträger San Miguel und eine angeschnittene Chorizo griff, kurz, ich brachte sie in dieser Woche wohl etwas aus der Fassung. An seinen prominenten Sozialstatus zu gemahnen, ist gar nicht so einfach, wenn einem das Gegenüber als Antwort ins Gesicht zu rülpsen oder einen Furz zu lassen droht.»
Daumen runter
- Widerlich. Florent-Claude ist ein substanzloses, erbärmliches Weichei. Er schafft sich mit seiner Gleichgültigkeit, Herzlosigkeit und seiner fehlenden Courage seine eigene Hölle. Und die überträgt Houellebecq durch seine literarischen Fähigkeiten auf seine Leserschaft. Und da frage ich mich: Will ich mir das antun?
- Widersprüchlich. Der Autor lässt sein erzählendes Ich alles und nichts sagen. Angriffige, sexistische, politisch unkorrekte Aussagen werden sofort wieder relativiert. Das ist Houellebecqs Masche und so schlüpft er immer wieder.
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Der Autor
Michel Houellebecq wurde 1958 geboren. Er gehört zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart. Für den Roman «Karte und Gebiet» (2011) erhielt er den prestigeträchtigsten französischen Literaturpreis «Prix Goncourt». Sein Roman «Unterwerfung» (2015) stand wochenlang auf den Bestsellerlisten und wurde mit grossem Erfolg für die Theaterbühne adaptiert und verfilmt.
Das Buch: Michel Houellebecq: «Serotonin» (2019, Dumont)
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