Seit dem Erscheinen von Menasses Buch «Die Hauptstadt» werde ich immer wieder gefragt: Muss man das lesen? Geht das zusammen, Fiktion und europäische Union? Mich hat das abgetörnt. Darum hat das Buch lange ungelesen auf meinem Lesestapel gelegen. Doch jetzt hab ich meinen inneren Schweinehund überwunden. Und bin froh darum!
«Die Hauptstadt» handelt von einem Schwein. Und dann noch von sieben Menschen, deren Lebenswege sich in Brüssel kreuzen. David de Vriend, über 80, hat Auschwitz überlebt.
Alois Erhart, emeritierter Volkswirtschaftler, arbeitet in einem Think-Tank über die Zukunft Europas mit. Kai-Uwe Frigge, EU-Beamter, Leiter der Abteilung Handel, ist ein eiskalter Typ. Darum nennt ihn seine Freundin Fridge. Sie ist Griechin, heisst Fenia Xenopoulou und leitet die «Arche Noah», die Abteilung Kultur in Brüssel.
Mit einer Jubiläumsfeier will sie das Image der EU-Kommission aufpolieren. Martin Susman ist ihr «Gango», der das Projekt stemmen muss. Er ist depressiv und säuft belgisches Bier.
Ebenfalls trinkfest: Kommissar Brunfaut. Er ist auf der Jagd nach dem Mörder Ryszard Oswiecki. Und einem dreckigen, rosa Hausschwein, welches durch die Strassen von Brüssel läuft:
«Er konnte nicht glauben was er sah. Da stand ein Schwein zwischen zwei dieser schmiedeeisernen Pfosten, die den Vorplatz des Hotels säumten, es stand da mit gesenktem Kopf, in der Haltung eines Stiers, bevor er zum Angriff übergeht, es hatte etwas Lächerliches, zugleich doch Bedrohliches. Es war völlig rätselhaft: Woher kam dieses Schwein, wieso stand es da? Ryszard Oswiecki hatte den Eindruck, dass alles Leben auf diesem Platz, zumindest soweit er ihn nun überblickte, erstarrt und eingefroren war, die kleinen Augen des Tieres reflektierten schimmernd das Neonlicht der Hotelfassade – da begann Ryszard Oswiecki zu laufen!»
Daumen rauf
- Alleine wegen des Prologs lohnt sich die Lektüre. Wie Menasse Miss Piggy auf seine Romanfiguren loslässt und diese zusammenbringt. Grosses Kino. Oink.
- Sinnlich, bewegend, tieftraurig. Der Österreicher zeigt, wie die EU in das Leben seiner Romanfiguren hineingreift. Wie sich das Rad der Fortuna mit oder ohne EU dreht. Mal geht’s rauf, mal runter. Und dann bleibt das Rad stehen.
- Figuren aus Fleisch und Blut. Ich kenne sie alle: de Vriend, Susman, Xenopoulo etc. Ihre Abgründe, Eitelkeiten, Hoffnungen und Träume.
- Erfrischend böse. Menasse ist ein EU-Befürworter, aber kein Schönredner. Er fährt engstirniger Bürokratie, eitlen Karrieristen, Nationalisten und visionslosen Status-Quo-Denkern mit Witz an den Karren. Krach!
- Pointen- und bildstark: Wie da David de Vriend sich an einer Fischgräte verschluckt und schreit: «dass das nicht wahr sein dürfe, er habe ein KZ überlebt und jetzt sterbe er an einer Gräte.» Diese Szene wird mir bleiben!
- Lehrreiche Lektion. Wer «Die Hauptstadt» liest, ist nicht nur gut unterhalten. Er hat auch gleich einen Crashkurs in europäischer Integration erhalten.
- Politisch engagiert. Robert Menasse ist in seiner politischen Haltung transparent. Er plädiert für ein Europa der Regionen. Und Auschwitz ist für ihn Mahnmal dafür, «zu welch grauenhaften Verbrechen der Nationalismus im alten Europa geführt hat.» Man spürt, mit welcher Leidenschaft Robert Menasse gegen Nationalismus und Rassismus anschreibt und aktuelle Diskurse aufgreift: z.B. EU-Krise, Brexit, Terrorismus.
Daumen runter
- Das letzte Drittel des Romans ist sehr technisch. Robert Menasse verfällt in einen essayistischen Ton. Das macht die Lektüre schwerfällig.
- Am Ende lässt der Autor eine Bombe platzen. Bumm. Aber irgendwie fehlt danach der Punkt. Der Roman franst aus. Ich bleibe ratlos zurück. Und diese Ratlosigkeit kostet Menasse eine Krone.
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Der Autor
Robert Menasse, geboren 1954 in Wien, lebt dort als Romancier und Essayist. Für seinen Roman «Die Hauptstadt» hat er mehr als vier Jahre in Brüssel gelebt und den Kontakt zu EU-BeamtInnen gepflegt.
Das Buch: Robert Menasse: «Die Hauptstadt» (2017, Suhrkamp)