Was ich an Literaturfestivals liebe: Dieses intensive Gefühl, an zwei, drei Tagen einer eingeschworenen Gemeinschaft zuzugehören. Menschen zu begegnen, die voller Hingabe schreiben und leidenschaftlich lesen, die es lieben in die Welt der Bücher einzutauchen und sich über das Gelesene auszutauschen.
Dieser Spirit wird der Online-Ausgabe von Solothurn fehlen. Darum folgt mir auf Facebook und Instagram «Die BuchKönig bloggt» und tauscht euch dort untereinander aus. Teilt Eindrücke, Meinungen und Entdeckungen. So wird das digitale Solothurn lebendig. Ich zähle auf euch!
Wer nicht bis zum Start des Live-Programms warten will, der kann bereits heute hier durchs Logbuch surfen. Die eingeladenen Autorinnen und Autoren präsentieren eigens für die Plattform verfasste Texte und treten ausgehend von der gegenseitigen Lektüre in einen schriftlichen Dialog über ihr Schaffen und ihre Bücher.
Mein Live-Stream Programm
(ich werde es laufend kommentieren)
Samstag, 23. Mai
10 Uhr – Comic-Workshop: Aus Menschen werden Comicfiguren. Aus Ideen kleine Bilderzählungen. Aber wie erfindet man seine Charaktere? Und wie erweckt man sie auf Papier zum Leben? Im Workshop mit dem Comic-Künstler Nando von Arb wird experimentiert, gemalt und collagiert. Ich tauche in die Welt des Comics ein und entwickle selber eine kleine Geschichte. Das macht Spass! Besonders dann, wenn man sich einen Menschen vorstellt und ihn als Tier zeichnet: glücklich, doof, wütend, traurig, zufrieden. Bei mir war es eine kleine giftige Schlange, die sich auf Weltreise begibt und dabei ihren Speizahn verliert. Und noch ein kleiner Tipp vom Künstler: Skizziert mit Bleistift, Härtegrad 4B oder 6B, das gibt dynamische Linien. Und lasst den Radiergummi weg. Lernt wieder zu zeichnen wie Kinder!
13 Uhr – Zu Stimmungen zwischen Memento und Vision: Christoph Höhtker und Tom Kummer tauschen sich im moderierten Gespräch über ihre aktuellen Bücher aus. So Zack Bumm, Bäng, dass ich nur noch lesen will!
Tom Kummers Roman «Von schlechten Eltern» kenne ich schon. Grosse Leseempfehlung! Christoph Höhtkers «Schlachthof und Ordnung» ist als nächstes dran. Der Autor betont: sein Roman sei unlesbar, irreführend, wild, disparat. Eine Aggression gegen die normale Form des Romans. Christoph Höhtker umreisst die Story: Ein Typ, der tablettensüchtig ist, steht morgens auf. Seine Droge ist alle. Er überlegt, dass er ein Rezept braucht. Geht zum Arzt. Doch der will ihm keines geben. Der Typ ist aber nicht nur auf kaltem Entzug, er hält diesen als Hobbyschriftsteller fest und zieht während des Romans in sein eigenes Buch ein. Um auf eine solche Geschichte zu kommen, schreibt Höhtker einfach los. Lässt jeden Morgen seine Gedanken mäandrieren. Schreiben ist für ihn Amüsement.
15 Uhr – Preisverleihung Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreises. Der erste Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis geht an: Nando von Arb für sein Buch «3 Väter». Eine autobiografische, stilistisch überragende, rasant und radikal aus der Kinderperspektive erzählte Graphic Novel über eine Patchworkfamilie. Fühle mich gebauchpinselt, dass ich heute in Nando von Arbs Comic-Workshop sitzen durfte!
17 Uhr – Hat der Buchhandel die Grippe? Die Verkaufsketten im Buchhandel laufen nicht immer reibungslos. Die Corona-Krise hat manche Bruchstellen deutlich gemacht. Müssen sich Verleger, Buchhändlerinnen, Autoren und Übersetzerinnen neu erfinden? Eine Bestandesaufnahme mit: Olivier Babel (LivreSuisse), Denise Zumbrunnen (SBVV), Vertreterinnen und Vertreter der Buchhandels-Verbände der West- und Deutschschweiz und Nicolas Couchepin (A*dS). Die Podiumsdiskussion verdeutlicht: Autor*innen und ihre Bücher müssen mehr Visibilität erhalten. Das kann nur gelingen, wenn die Branche eng zusammenarbeitet, Verlage als kulturelle Akteure beim Bund etabliert und junge Buchhandlungen unterstützt werden. Wenn Literaturfestivals weiterhin stattfinden trotz Corona – so wie die Solothurner Literaturtage! Sie machen das vielfältige literarische Schaffen in der Schweiz für die Leserschaft sichtbar. Das ist notwendig. Denn in den Feuilletons finden immer weniger Buchrezensionen statt.
18 Uhr – Aslı Erdoğan – PEN Gastveranstaltung: Aslı Erdoğan, Symbolfigur des Widerstands in der Türkei, lebt seit 2017 im deutschen Exil. 2016 wurde sie in der Türkei viereinhalb Monate im Gefängnis festgehalten. Im Gespräch mit Adi Blum spricht sie über ihren Roman «Das Haus aus Stein». Darin nimmt sie ihre eigene Gefängniserfahrung vorweg. «Das Haus aus Stein» ist für die Autorin eine Metapher für den Ort des Traumas. Jeder habe ein solches Steinhaus. In der Erinnerung werde es grösser und grösser, bis plötzlich das Dach weg sei.
21:30 Uhr – Disco Disco Disco: mit Raphael Urweider und Patrick Savolainen. Cooler Sound. Genau das Richtige, um nach zwei Tagen Live-Stream runter zu kommen. Anregende Podien, reichhaltige Talks, persönliche Buchclubs und eben gehört: ein sehr schöner Reina-Gehrig-Song. Nur für Reina, die genau dann geht, wenn es am Schönsten ist. Die Online-Ausgabe der Solothurner Literaturtage ist gelungen. Das Virtuelle bietet interessante Möglichkeiten. Gleichwohl kann sie das reale Literaturfestival nicht ersetzen. Good Night. Nächstes Jahr in Solothurn!
Freitag, 22. Mai
9 Uhr – SRF-Sendung Kontext: Lesen in Zeiten von Corona – die Buchbranche in der Krise. Ist die Buchbranche in Gefahr? Und welche Chancen bietet die Krise? Gute Auslegeordnung von meinen Redaktions*kolleginnen Nicola Steiner und Michael Luisier. Ich bin erleichtert zu erfahren, dass der Buchhandel die Krise relativ gut überstanden hat. Der Umsatz in der Buchbranche ist während des Shutdowns um 30 Prozent eingebrochen. Kleinere Buchhandlungen konnten ihren Umsatz sogar steigern. Dank Stammkunden, grossem Engagement und weil Bücher für viele Menschen wesentlich sind. Schön zu hören! Sehr persönlich und nachvollziehbar die Erfahrungsberichte: Marianne Sax, Buchhändlerin aus Frauenfeld, zeigt sich zuversichtlich und sieht viele Chancen in der Krise. Richtig Wind habe der Digitalisierungsschub dem früher wenig genutzten Online-Geschäft gegeben. Verleger Daniel Kampa zeigt sich besorgt, weil kleinere Verlage am Abgrund tanzen. Dennoch ist er überzeugt, dass gute Bücher überleben werden! Und für Julia Knapp vom SBVV ist klar: die Umsetzung von Lesungen und Literaturfestivals im Digitalen stellt einen Zusatz dar, kann aber keinen Ersatz bieten.
10 Uhr – Eröffnung: Gerade sind die Solothurner Literaturtage eröffnet worden. Live aus dem Schlachthaus Theater Bern. Die Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga unterhält sich angeregt mit Autorin Simone Lappert. Zwei sehr gute Gesprächspartnerinnen! Die Bundespräsidentin hat Lapperts Roman «Der Sprung» am Anfang der Corona-Krise gelesen. Der zweite Satz habe sie sofort für das Buch eingenommen. Da setzt eine junge Frau den Schritt ins Leere. Genau so sei das mit Corona. Das Ungewisse. Überhaupt habe Politik viel mit Literatur zu tun: Politik brauche Kreativität und Kunst sei oftmals politisch!
11 Uhr – Logbuch: Habe ein kleines Loch im Programm und surfe etwas im Logbuch herum. Ein Logbuch ist ja eigentlich was für Seefahrer. Mal schauen, ob ich nicht seekrank werde. Mindestens eine Entdeckung habe ich bereits gemacht. Dieses schöne Zitat von Reto Hänny: «Schreiben ist immer ein Balance-Akt zwischen Gas geben, Schub herstellen und Abstürzen, zwischen Kalkül und sich treiben lassen mit dem Risiko des Absturzes.»
Eben bin ich beim Stöbern auf Christopher Kloeble und seinen Roman «Das Museum der Welt» gestossen. Ein Abenteuerroman über einen indischen Waisenjungen. Das interessiert mich! Habe eben drei Romane von indischen Schriftsteller*innen gelesen. Kloeble kennt Indien offenbar gut. Ihm liegt viel daran, das Land in all seinen Schattierungen abzubilden. Im Gespräch betont er: «Indien ist sehr mannigfaltig. Da sind die Klischees. Wir neigen aus westlicher Sicht dazu, uns auf Extreme zu kaprizieren. Entweder geht es um Slums, Armut, die Kasten und den Dreck, oder um das Exotische, Fantastische, die vielen Farben, Elefanten, Gewürze. Ich verstehe natürlich, wie sich so was entwickelt, aber das ist, wie wenn wir von hier nur Starkbierfeste zeigen und wie die Leute Steuererklärungen ausfüllen. Das hat mich oft gestört, nun wo ich Indien besser kenne. Deshalb ist es mir in dem Buch und generell wichtig, zu erzählen, wie wahnsinnig komplex das ist.» In der SRF-Literatursendung «52 Beste Bücher» von Redaktionskollegin Luzia Stettler könnt ihr noch mehr über Autor und Buch erfahren!
12 Uhr – Gläserner Übersetzer 1: Ich schaue Ulrich Blumenbach bei seiner Übersetzungsarbeit über die Schulter und kann mich via Chat in einen Dialog einklinken. Nach einer Stunde bin ich erschöpft. Dieser Job erfordert höchste Konzentration. Den richtigen Ton zu treffen und das passendste Wort zu finden ist eine grosse Herausforderung. Besonders dann, wenn der Text nicht nur komplex, sondern auch noch in der Erzähltechnik des Bewusstseinsstrom geschrieben ist!
15 Uhr – Die fünften Landessprachen als Teil der Schweizer Literaturszene: Was müsste sich ändern, damit die fünften Landessprachen als Teil und nicht als «das Andere» der Schweizer Literaturszene etabliert werden könnten? Annika Reich, Dragica Rajčić und Lubna Abou Kheir diskutieren wie schwierig es ist als Autor*innen in der Fremde zu publizieren und sich eine Existenz aufzubauen. Sehr interessant finde ich den Gesprächsbeitrag von Annika Reich. Sie ist Autorin, Kolumnistin und im Leitungsteam des Projekts Weiter Schreiben. Das ist ein literarisches Projekt, in dem Autor*innen aus Kriegs- und Krisengebieten veröffentlichen und sich mit in Deutschland ansässigen Autor*innen vernetzen können. Reich betont die Wichtigkeit der Vernetzung, um nachhaltig Teil des Literaturbetriebs zu werden. Denn Zugehörigkeit und nicht Herkunft sei ausschlaggebend, um wahrgenommen zu werden. Um das zu verbessern, brauchte es zudem mehr Diversität in Förderinstitutionen. Dort fehle oftmals die Expertise.
Die Schriftstellerin Dragica Rajčić lebt seit 40 Jahren in der Schweiz. Sie schreibt Gedichte, Theaterstücke und Prosa. Auch ihr sind Fremdheitserfahrungen vertraut. In der Schweiz wird sie als eine Autorin aus Kroation und in Kroatien als eine Autorin aus der Schweiz wahrgenommen. Dabei sollte eben die Zugehörigkeit ausschlaggebend sein. Ihr neuer Roman «Glück» ist ein faszinierender, vielstimmiger Text. Ein Langgedicht, ein Kurzroman, ein Lesedrama. Eine Mischung aus innerem Monolog und Bewusstseinsstrom. Im Zentrum steht die junge Dichterin Ana Jagoda. Sie hat Traumatisches erlebt und sucht nun schreibend ihrem «wackligen Selbst» wieder Halt zu geben. Das gelingt ihr, indem sie ihre widersprüchliche Kindheit in einem dalmatischen Dorf in Worte fasst. Und die zerstörerische Liebe zu ihrem Mann Igor auf Papier bannt, mit dem sie nach der Heirat nach Chicago ausgewandert ist. Mehr dazu auch in der SRF-Sendung «Schnabelweid» von Redaktionskollege Markus Gasser.
16 Uhr – Erzählen im Bild: Wie entstehen die Bildwelten von Büchern, Graphic Novels und Animationsfilmen? Die Illustrator*innen Anete Melece, Nando von Arb und Vera Eggermann erzählen von ihrer Arbeit mit Bildern, von dramaturgischen Überlegungen und von kreativen Herangehensweisen und Methoden. Auf die Frage hin, was ein Kinderbuch darf sind sich alle drei einig: Intoleranz, Engstirnigkeit, Rollen-Klischees sind No-Gos.
17 Uhr – Peter Bichsel im Gespräch. Im Zentrum steht Peter Bichsels Text «Die drei Niederlagen des Denkers». Schöne Anekdote: Einmal hat ihn ein Mädchen gefragt, wie er die Namen für seine Figuren finde. Da habe er sich gefreut und gewusst: Aha! Das ist eine Kollegin!
18 Uhr – Club+ mit Tom Kummer: Ich habe den Roman «Von schlechten Eltern» gelesen und treffe mit anderen Leser*innen auf Tom Kummer. Leider ist dieser Buchclub, wie alle anderen, ausgebucht. Jedenfalls: ich werde euch alles haargenau erzählen!
Ein Mann fährt mit einem Limousinen-Taxi durch die Nacht. Hinten sitzt ein prominenter Fahrgast. Unsichtbar für den Gast fährt auch Tod und Trauer mit. Der Fahrer hat kürzlich seine Frau verloren. Tom Kummer hat mit «Von schlechten Eltern» ein stimmungsvolles Trauerbuch geschrieben. Ein Buch, das von der ersten Seite an fasziniert. Nicht der Plot steht im Zentrum, sondern Meditation. Kummer schildert wie er seine Figuren «fahren» lässt. Ist der Fahrgast weg, ist auch die Geschichte weg. Und genau da stellt er dem Leser eine Falle, weil er dessen Erwartung bricht. Alle Buchclub-Teilnehmer*innen sind sich einig: Das Buch hat aufgewühlt. Besonders der offene Schluss, der so einige Spekulationen zulässt. Auf meine Frage, warum er eine Vorliebe fürs Autofiktionale hat, antwortet der Autor: «Das ist das Ehrlichste. Ich schreibe Bücher, die ich schreiben muss.» Ehrlich, sympathisch und leidenschaftlich kommt auch Tom Kummer in «52 Beste Bücher» von Redaktionskollegin Esther Schneider rüber.
19 Uhr – Literatur und Moral: Welche «Haltung» soll und darf das Schreiben motivieren? Diese und andere Fragen diskutierten Lukas Bärfuss, Nora Gomringer, Sandra Künzi, moderiert von Lucas Marco Gisi. Das Podiumsgespräch ist mehr als angeregt. Aber alle sind sich einig: in Politik, Gesellschaft und Kultur sind aktuell Ausschlussmechanismen am Wirken, gegen die Haltung bezogen werden muss!
21 Uhr - Jukebox littéraire: Das Publikum wirft vier Autor*innen auf der virtuellen Bühne Begriffe seiner Wahl zu. Ausgehend von diesen Wörtern machen sich die Autor*innen in ihrem literarischen Repertoire auf die Suche nach passenden Texten. Für den musikalischen Teil sorgt Adrien Gygax. Soll was Spielerisches sein!
Ob es das war, kann ich euch leider nicht beantworten. Ich war schon so geschafft von diesen vielen Eindrücken, dass ich statt Jukebox einen Abendspaziergang gemacht habe.
Sämtliche Blogs von der «BuchKönig» könnt ihr hier nachlesen und den Radiobeitrag mit der Bilanz der 42. Solothurner Literaturtage unten nachhören: