Selten passiert es mir, dass ich ein Buch vom ersten bis zum letzten Satz liebe - so wie «Unsere Seelen bei Nacht» von Kent Haruf. Darin geht es um eine berührende Liebesgeschichte zwischen zwei alten Menschen, die miteinander zu neuer Lebensfreude finden. Kent Haruf inszeniert das meisterlich. Bereits in der ersten Szene bin ich mitten in der Geschichte drin:
«Und dann kam der Tag, an dem Addie Moore bei Louis Waters klingelte. Es war an einem Abend im Mai, kurz bevor es endgültig dunkel wurde. Sie wohnten einen Häuserblock voneinander entfernt in der Cedar Street, im ältesten Teil der Stadt. Ulmen, Zürgelbäume und ein einzelner hoher Ahorn säumten die Strasse und die grünen Rasenflächen vor den einstöckigen Häusern. Es war ein warmer Tag gewesen, doch jetzt am Abend kühlte es ab.»
Addie Moore ist siebzig Jahre alt, rüstig, adrett und Witwe. Viel zu lang hat sie darauf geachtet, was die Leute in Holt von ihr denken. In diesem elenden Kaff irgendwo im Hinterland von Colorado. Dafür ist das Leben zu kurz! Sollen die sich doch das Maul über mich und Louis zerreissen, denkt sich Addie und krempelt ihr Leben um.
Daumen rauf
- Endlich erzählt da mal einer eine Liebesgeschichte, in der es nicht um Jugend, makellose Schönheit und wilden Sex geht, sondern um reife Liebe, schrumplige Haut und wahre Freundschaft.
- Kent Harufs Sprache ist malerisch. Er erzählt schlicht, zart, wunderschön. Er führt mir vor Augen, wie Liebe entsteht Erst schwatzen die beiden Nächte lang durch, dann beginnt Addie ihren Louis zu bekochen und dann heben die beiden ab. Wie das frisch Verliebte eben tun.
- «Unsere Seelen bei Nacht» hat mich existentiell berührt. Ich habe eine Ahnung davon erhalten, wie es ist, wenn der Tod eine Lücke schlägt. Wenn man niemanden mehr hat, der neben einem im Bett liegt und mit dem man plaudern kann. Darum bin ich sofort losgerast und habe meinen einsamen Vater in der Seniorenresidenz besucht.
Daumen runter
Die Story ist manchmal etwas allzu schwarz-weiss. Da ist das Klischee, der engstirnigen Kleinstadt, in der über die Beziehung der beiden Alten getuschelt. Da sind ihre erwachsenen Kinder - der böse Sohn, die verständnislose Tochter. Sie wollen die Beziehung der beiden mit allen Mitteln torpedieren.
Der Autor
Kent Haruf (1943-2014) war ein US-amerikanischer Schriftsteller. «Unsere Seelen bei Nacht» ist sein letzter Roman. Er ist mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt worden.
Das Buch: Kent Haruf: «Unsere Seelen bei Nacht» (2017, Diogenes)
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