Adelaida Falcón ist todmüde. Vor zwei Wochen ist ihre Mutter gestorben. Ihre engste Verbündete in einem Land, in dem die Leute wie Fliegen sterben und in die Bestattungsöfen geschoben werden «wie die Brote, die in den Läden knapp wurden und als steinharte Erinnerung an den Hunger auf unser Gedächtnis niederregneten».
Adelaida konnte ihre Mutter nicht retten. In einem Land, in dem es an allem fehlt: an Medikamenten, an frischen Spitallaken, an Mitgefühl, an Zuversicht. Sie denkt an die letzten Tage zurück: «Wir beerdigten meine Mutter in ihren Sachen: dem blauen Kleid, den schwarzen Schuhen, der Gleitsichtbrille. Anders konnten wir uns nicht verabschieden. Wir begruben alles, weil uns nach ihrem Tod nichts mehr blieb. Nun hatten wir nicht einmal einander. An dem Tag waren wir todmüde. Sie in ihrem Holzsarg, ich auf dem armlosen Stuhl in der baufälligen Kapelle. Aus Gewohnheit spreche ich von dem Tag noch im Plural, denn der Leim der Jahre hat uns zusammengekittet wie die Teile eines Schwerts, mit dem wir einander verteidigten.»
Adelaida hört Schüsse. Sie schaut aus dem Wohnzimmerfenster. Unten auf dem Platz kämpfen Demonstranten gegen Regierungsstreitkräfte. Vermummte, Tote, Tränengas. Seit Tagen geht es so. Doch auf schlimm kommt schlimmer. Adelaida wird gewaltsam aus ihrer Wohnung vertrieben. Das Letzte, woran sie sich erinnern kann, ist der Schlag eines Pistolenkolbens auf den Kopf. Dann wird es Nacht in Caracas.
Daumen rauf.
- Todo junto. «Nacht in Caracas» ist all das zusammen: packend, verstörend, ergreifend, atmosphärisch, politisch, historisch, symbolisch, allgemeingültig, sprachgewaltig, schön, finster, traurig, mutig, hoffnungsvoll.
- Ich weine, zittere, hadere, kämpfe mit Adelaida Falcón! Reise mit ihr in ihre Kindheit zurück. Erlebe, wie sie unbeschwert Pflaumenkerne ins Grüne spuckt.
- Ich erfahre, wie Venezuela kollabiert. Wie eine Militärdiktatur funktioniert. Wie systematische Gewalt eine Zivilgesellschaft zerstört.
- Ich erfahre historische Details. Zum Beispiel woher das Wort «Musiú» kommt. Es bezeichnet die Männer und Frauen aus Madrid, den Kanaren, Barcelona, Sevilla, Neapel, Berlin, die das Land mitaufgebaut haben, um es dann wieder zu verlassen. Wie die Ratten das sinkende Schiff.
- Ich staune über die dunkle Schönheit von Borgos Sprache. Den Sog, die Präzision. Wie die Autorin klischeefrei eine allgemeingültige Geschichte erzählt. Eine Geschichte über den Verlust von Heimat und den Durchhaltewillen, diesen auszuhalten.
Daumen runter
Nada. Nichts. Ausser, dass das Buch schon ausgelesen ist.
Die Autorin
Karina Sainz Borgo wurde 1982 in Caracas geboren. Sie emigrierte vor mehr als zwölf Jahren nach Spanien. Ihre Verwandten leben weiterhin in Venezuela. Sie arbeitet als Journalistin in Madrid und schreibt für verschiedene Zeitungen und Blogs in Spaien und Lateinamerika. «Nacht in Caracas» ist ihr erster Roman.
Das Buch: Karina Sainz Borgo: «Nacht in Caracas» (S. Fischer, 2019)
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