«Der Garten meiner Mutter» von Anuradha Roy
Nordindien, 1992. Myshkin, 69, lebt in einem kleinen Ort unterhalb des Himalayas, wo er aufgewachsen ist. Er bekommt ein Paket mit Briefen seiner verstorbenen Mutter zugestellt. Lange zögert er sie aufzumachen. Die Angst vor neuem Schmerz hält ihn zurück.
Als er neun Jahre alt war, ist seine Mutter ohne ihn mit einem Deutschen durchgebrannt. Myshkin erinnert sich. Fühlt die Leere von damals. Und jetzt dieses Paket! Myshkin gibt sich einen Ruck. Er will wenigstens jetzt, im Alter, seine Vergangenheit verstehen.
Als erstes nimmt er sich das Tagebuch seiner Mutter vor, das sie mit 16 geschrieben hat. Mit Pinsel hat sie über die erste Seite gemalt. Die Zeichnung zeigt «ein glückselig lächelndes Mädchen, das auf dem Rücken in einer Blumenwiese liegt, umgeben von einem Himmel voller Sterne.»
Myshkin ist fasziniert und beginnt die Lebensgeschichte seiner Mutter aufzuschreiben. Einer jungen Frau, die malen und schreiben konnte wie eine Göttin, die von ihrem Vater gefördert wurde und die ungebunden sein wollte.
Er reflektiert anhand ihrer Briefe und Tagebucheinträge, wie mutig sie war, mit 26 Jahren den Sprung in die Freiheit zu wagen und sich den Massregelungen ihres Ehemanns zu entziehen. «Der Garten meiner Mutter» von Anuradha Roy ist ein stimmungsvoller Roman über Freiheit und den glühenden Geisteshorizont eines Indiens vor der Unabhängigkeit!
«Die Detektive vom Bhoot-Basar» von Deepa Anappara
Nordindien, heute. Jai, 9, lebt mit seiner älteren Schwester in einem illegalen Slum am Rande einer Grossstadt. Der Vater ist Bauarbeiter, die Mutter putzt bei reichen Leuten in den Hochhäusern, die hinter der Müllkippe in die Höhe ragen.
Die Familie ist zufrieden, auch wenn es an allem fehlt. Das Wellblechdach ihrer Behausung hat Löcher. Wasser muss in Kanistern angeschleppt werden. Für den Toilettengang muss man vor den öffentlichen Toi Tois Schlange stehen. Im Winter ist es eiskalt. Selbst die Ziegen auf der Strasse tragen gestrickte Pullover. Und dann der dichte Smog und der grosse Lärm…
Für Jai ist das ganz normal. Auch dass er zum Frühstück nur einen Schluck Tee und einen Zwieback kriegt. Wenn der Magen knurrt, dann knurrt er halt.
Jeden Morgen geht er zur Schule. Danach streift er gerne mit seinen Freunden Pari und Faiz durch den Bhoot-Basar. Als ein Junge aus ihrer Klasse verschwindet, gründet das Trio eine Detektei. Doch ihre Ermittlungen führen sie auf gefährliches Terrain! Ein impulsiver Mix aus Krimi und Coming-of-Age-Geschichte über Armut und Strassenkinder.
Deepa Anapparas Sprache ist überbordend, vital, intensiv: Ich spüre, rieche und schmecke Indien!
P.S. Jai hat mich übrigens überzeugt, fleissig den Kopfstand zu üben. Weil wer ihn macht, wird nie weisse Haare, Gehirnerweichung, lahme Arme oder Beine haben und zu Hause immer die Nr. 1 sein. Geht doch!
«Mädchen brennen heller» von Shobha Rao
Südindien, 2001. Purnima, 16, lebt auf dem Land, im kleinen indischen Dorf Indravalli. Einmal im Monat besucht sie den nahegelegenen Tempel auf dem Berg, um in der friedlichen Stille ihrer Mutter zu gedenken. Sie erinnert sich an das schönste der Gefühle! Wie die Mutter jeweils beim Kämmen die Hand auf ihren Scheitel gelegt hat. Für einen kurzen Moment «ein Gewicht so zart und fein wie die Sprenkel der Regentropfen nach einem heissen Sommertag.»
Doch die Mutter ist tot, die schönen Sommertage vorbei. Purnima soll verheiratet werden. Täglich wird sie mit dem Vorwurf ihres Vaters konfrontiert, ein Mädchen zu sein, die teures Brautgeld kostet. Ein Nichts, das die Familie ruiniert.
Als Savita in den Haushalt kommt und die Heimarbeit am Webstuhl der Mutter übernimmt, entspinnt sich zwischen den beiden jungen Frauen eine tiefe Freundschaft.
Purnima spürt Savitas Stärke. Hoffnung auf eine Zukunft keimt auf. Doch dann wird Savita Opfer eines Übergriffs. Um der Zwangsehe mit ihrem Peiniger zu entgehen, flieht sie aus dem Dorf. Purnima ist untröstlich. Sie wird alles tun, um ihre Freundin wiederzufinden!
Ein schonungsloser Roman über Armut, Zwangsehe und Frauenfeindlichkeit. In einer weichen, fliessenden Sprache geschrieben, die nach Joghurtreis und Banane schmeckt. Dieser Widerspruch scheint typisch für Indien zu sein. Mich jedoch stellt er auf den Kopf. Aber mittlerweile bin ich ja Profi darin.
Die Bücherliste
- Anuradha Roy: «Der Garten meiner Mutter» (Luchterhand Verlag, 2020)
- Deepa Anappara: «Die Detektive vom Bhoot-Basar» (Rowohlt, 2020)
- Shobha Rao: «Mädchen brennen heller» (Elster Verlag, 2020)