25 Jahre ist es her, seit ich zum letzten Mal den Nahen Osten bereist habe und eine Düne runter gerutscht bin. Auf Knien, bei 50 Grad im Schatten, Brandblasen inklusive. Und seit dann packt mich immer wieder die Sehnsucht nach Nahost. Nach der Wüste, nach den Menschen, nach ihren Lebensgewohnheiten. Jenseits von Krisengebiet und Kriegsnachrichten. Eine Sehnsucht, die Svenja Leiber stillt. Mit Textpassagen wie zum Beispiel dieser:
«Hört ihr?», flüstert Mutter. Nichts, denke ich und kneife die Augen zusammen. Da kniet sie sich hin. «Hört ihr das nicht?» Wir setzen uns neben sie. Und tatsächlich höre ich plötzlich ein leises Pfeifen, eher Streichen, und sehe, wie der feine rote Sand in ununterbrochener Bewegung, kaum wahrnehmbar, von dem Grat geweht wird und sich in der sonnigen Luft aufzulösen scheint. «Sie wandert», sagt Mutter leise. «So sanft und zärtlich wandert ein Koloss.»
«Staub» handelt von einem Mann, der Spezialist im Vorbei-Leben ist. Jonas Blaum, 40 Jahre alt, Arzt, wenn auch momentan ohne Job, ist gerade auf dem Weg von Berlin zu seinem Freund Bassan nach Amman, Jordanien. Was er dort will, weiss er nicht genau. Seine Freundin hat ihn eben verlassen. Und ihm den Tipp mit auf den Weg gegeben: Wach doch mal auf!
Doch Jonas weiss, warum er nicht aufwachen will. Der Grund liegt in seiner Kindheit begraben. Als Kind hat er mit seinen Eltern und Geschwistern ein Jahr in Riad, Saudi-Arabien, verbracht. Und damals ist etwas passiert. Sein kleiner Bruder Semjon ist verschwunden. Ein kleiner Junge, der in Wahrheit ein kleines Mädchen ist und darum von Jonas besonders behütet wird:
«Es gab nichts Schlimmeres, als wenn Semjon weinte. Dabei weinten ja eigentlich alle dauernd. Aber wenn er weinte, dann weinte auch alle Treue, alle Sanftmut, alle Ehrlichkeit. Wenn er weinte, dann zog sich die Welt ein wenig zusammen. Dann krümmten sich Schnecken und Käfer und Zaunpfähle in der Nähe ein bisschen.»
Daumen rauf
- Atmosphärisch. In diesem Roman kreuzen und überlagern sich europäische und arabische Sichtweisen. Ich erfahre viel über den Alltag in Amman und Riad. Über Gewohnheiten, Aberglaube, Religion und arabische Sprichwörter. Als Kaffee-Liebhaberin gefällt mir dieses besonders: «Ein Kaffee muss heiss sein wie die Küsse eines Mädchens am ersten Tag, süss, wie die Nächte in ihren Armen und schwarz wie die Flüche ihrer Mutter.»
- Staubig. Svenja Leiber schreibt ohne Klischee und Zellophan. Hier geht es nicht um Wüstensandromantik, sondern um Nahost. Darum auch der Buchtitel «Staub». Eindrücklich die Stelle über die Schikanen an der Grenze zwischen Jordanien und Israel: «Zwei Stunden verschwende ich mit Fluchen: Wer hat euch in den Kopf geschissen? Kaugummi kauende Schönlinge. Gilgamesch und Hermes sind mir egal. Wo, in welchem gottverdammten Kibbuz habt ihr das gelernt? - Verzeiht. Ich vergesse mich.»
- Heiss. Nicht nur das Wetter, sondern auch die Story. Da hat einer eine Lebenskrise und fährt ausgerechnet in jene Weltregion, die ihn damals vor dreissig Jahren als Kind traumatisiert hat. Auweia!
- Kantig, rau, schön. Ich bin ein Fan von Svenja Leibers Sprache.
- Klug. Svenja Leiber bringt präzise und zugleich erfrischend die Befindlichkeit unserer Zeit auf den Punkt. Das Handy als Valium-Zäpfchen. Cool, nicht? «Wer hätte geglaubt, dass die grosse Geste des Heldentums und der Gewalt einmal in ein kleines Telefon münden würde. Ein Valium-Zäpfchen für alle. Immer wieder überfällt mich, neben aller Wut, auch diese Liebe für unsere Gegenwart, eine Mischung aus Fieberwahn und Glücksrausch.»
- Aktuell und kritisch. In diesem Buch kriegen alle ihr Fett weg: Die reichen Scheichs, die Israeli, die Jerusalempilger, die europäischen Expats, die fügsam verschleierten Frauen und der IS: «Hatte jemand mit dem I gerechnet? Diesem Zeichen, dass der neuste Tod mit dem Zeigefinger macht? Eine lehrerhafte, kleine, obszöne Geste. Ein dürres, armes I, winzig und bedrohlich – eine Idee. Und Ideen sind immer gefährlich. Wie Meteoriten. Dürfen nicht an der falschen Stelle einschlagen. Auch ganz kleine nicht.»
Daumen runter
Das Märchenhafte der Geschichte und das Happy End gefallen mir nicht. Da war ich voll im Nahostfeeling drin und dann wird gegen Schluss alles traumtänzerisch. Schade.
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Die Autorin
Svenja Leiber, 1975 in Hamburg geboren, wuchs in Norddeutschland auf und verbrachte als Kind einige Zeit in Saudi-Arabien. Sie studierte Literaturwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte und lebt heute in Berlin. Für ihre Erzählungen und Romane, zuletzt «Das letzte Land» (2014), wurde sie mehrfach ausgezeichnet.
Das Buch: Svenja Leiber: «Staub» (2018, Suhrkamp)
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