Quichotte, ca. 65, Amerikaner mit indischen Wurzeln, zappt sich durch das Fernsehprogramm. Schaut Morgenshows, Late-Night-Talks, Soaps, Krankenhausdramen, Polizei-, Vampir- und Zombie-Serien, Liebesgeschichten, Song Contests, Schönheitswettbewerbe, Naturfilme und Baseballspiele. Zapp, Zapp, Zapp.
Doch das exzessive Glotzen hat seinen Preis. Quichottes Hirn ist auf Nussgrösse geschrumpft. Er kann nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Infolge entwickelt er eine gefährliche Passion. Er will mit Taten das Herz der schönen Talk-Show-Königin Salma R. erobern. Seine Quest beginnt. Die Heldenreise führt ihn im Auto quer durchs Land, bis nach New York. Doch auf der Suche nach dem Gral der Liebe (Hilfe, unser Ritter der Strasse ist ein Stalker!) muss Quichotte sieben Täler durchqueren und zahlreiche Abenteuer bestehen. Ob er die Prüfung bestehen und die Gunst seiner Dulcinea gewinnen kann?
Daumen rauf
- «Quichotte» ist pikaresk, verrückt, gefährlich. Das hat Drive!
- «Quichotte» kämpft gegen Falschnachrichten, Populismus, Fanatismus, Rassismus und Engstirnigkeit. Das überzeugt! Es gibt eine eindrückliche Szene in der Quichotte in einem Billy Diner wegen seiner Hautfarbe drangsaliert und die Frage in den Raum gestellt wird: «Gibt es in diesem Amerika einen Platz für uns?»
- «Quichotte» ist eine scharfsinnige Gesellschaftsanalyse. Sie geht dem Lebensgefühl mancher Menschen in Amerika und Europa auf den Grund. Der Leere, Einsamkeit, existentiellen Angst. Dem Gefühl, die «tiefen Harmonien» und den Lebenssinn verloren zu haben. Weil keine Regeln mehr gelten. Weil das Gestern keine Bedeutung mehr hat. Wir würden - so Rushdie - «im Zeitalter der elektronischen propagierten Hysterie leben, in dem Worte zu Bomben werden, die ihre Nutzer in die Luft sprengen und jede öffentliche Äusserung kann eine Serie solcher Explosionen auslösen. Unser Zeitalter nach Google, in dem der Mob herrscht und das Smartphone den Mob beherrscht.» Das gibt zu denken!
- «Quichotte» spielt in New York, London und Bombay. Die Figuren im Roman sind Menschen mit Migrationshintergrund. Sie haben in jungen Jahren Indien verlassen und in Amerika und England eine neue Heimat gefunden. Das öffnet Horizonte!
- «Quichotte» erzählt auch das fesselnde Leben des Mannes, der Quichotte erschaffen hat. Doch dieser Mann ist nicht Salman Rushdie, oder doch? Das ist rätselhaft!
Daumen runter
- Man braucht für «Quichotte» eine gute Kondition. Denn die Quest des Quichottes ist anspruchsvoll.
- Und dann ufert der Roman stellenweise aus. Doch Rushdie gibt gleich selbst eine brillante Antwort darauf: «Viele der heutigen Geschichten sind und müssen von dieser pluralistischen, ausufernden Art sein, denn im Leben der Menschen und in ihren Beziehungen hat so etwas wie eine nukleare Spaltung stattgefunden, Familien werden getrennt, Millionen und Abermillionen von uns sind in die vier Ecken der Erde gereist, entweder aus Notwendigkeit oder aus freien Stücken. Diese zerbrochenen Familien können unsere am besten verfügbaren Linsen sein, durch die man diese zerbrochene Welt betrachtet.» Okay, Okay, ich habe ja schon fünf Kronen gegeben!
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Der Autor
Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, studierte in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder« wurde er weltberühmt. Seine Bücher erhielten renommierte internationale Auszeichnungen, u.a. den Booker Prize, und sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn die Queen zum Ritter.
Das Buch: Salman Rushdie: «Quichotte» (C. Bertelsmann, 2019)
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