Makaber, tragisch, urkomisch. Das ist «Babylon». Der neue Roman von Yasmina Reza. Schon der Buchtitel deutet darauf hin: Babylon, Psalm 137. Für alle, bei denen der Zwanziger nicht fällt – Boney M. kann auf die Sprünge helfen: «By the rivers of babylon, there we sat down / Ye-eah we wept, when we remembered zion».
Jean-Lino heisst der Vertriebene aus dem heiligen Land. Er lebt in Paris, ist rund sechzig Jahre alt. Einer mit schütterem Haar, der dieses wie Gilbert Gress über die Glatze kämmt. Und dieser Jean-Lino fühlt sich seit langem aus seinem Leben vertrieben. Schuld daran: seine Frau Lydie. Eine New-Age-Therapeutin. Sie nimmt ihm die Luft mit ihrer Exzentrik und ihrem Bio-Huhn-Fanatismus. Nach einer Party bei Freunden in der Wohnung unter ihnen geraten Jean-Lino und Lydie in Streit. Hick, Hack. Die Federn fliegen:
«Ich habe diese ständigen Einschränkungen so was von über, sagt Jean-Lino, den ihr manisches Hantieren wahnsinnig macht, diesen Terror hab ich so was von satt, wenn ich jeden Tag Huhn essen will, will ich jeden Tag Huhn essen, ohne dass du und deinesgleichen mich anscheissen, wenn ihr nur Körner und Salat fressen wollt, dann macht das meinetwegen, aber lasst andere damit verdammt noch mal in Ruhe.»
Als dann Lydie, die Tierschützerin, mit ihren High Heels nach seinem geliebten Kater tritt, dreht Jean-Lino durch. Er packt sie am Hals. Lydie strampelt. Und ist mause...
Daumen rauf
- Wenn ich Yasmina Reza lese, dann ist das, wie wenn ich einen von diesen überdrehten, französischen Kinofilmen schaue. Zum Beispiel «Le diner des cons». Filme, die den Alltag überzeichnen, pointenstark die gut situierten Intellektuellen parodieren und einem die eigene Borniertheit vor Augen führen.
- Yasmina Reza weiss die Zeichen der Zeit zu deuten. «La grande nation» habe sich seelisch erschöpft, weil die Französinnen und Franzosen das Gefühl der Sicherheit verloren hätten, schreibt Reza in ihrem Roman. Dabei sei doch alles ungewiss im Leben. Also vorwärts: en marche.
- Die Geschichte ist aus der Perspektive von Jean-Linos Nachbarin erzählt. Elisabeth ist sechzig. Eben war sie noch jung und ist in Kriegsbemalung durch die Strassen von Paris gestöckelt. Und jetzt? Jetzt steht sie mitten in der Nacht im Pyjama im Treppenhaus und hilft Jean-Lino, die Leiche von Lydie wegzuschaffen. In einem roten, überdimensional grossen, ausgebeulten Koffer. Was für eine Szene. Slapstick pur. Comme toujours bei Yasmina Reza!
Daumen runter
- «Babylon» will alles sein: Beziehungsroman, Krimi, Komödie, Gesellschaftsanalyse. Ist aber weder Fisch noch Huhn.
- Bei aller Komik: «Babylon» hinterlässt bei mir einen leicht widerwärtigen Nachgeschmack. Ich lache über Schicksale, die eigentlich traurig sind.
- Und um nochmals aufs Bio-Huhn zu kommen: Es ist zu schwach gewürzt und leider auch zu wenig knusprig gebraten. Übersetzt: Yasmina Reza hat schon bessere Bücher geschrieben.
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Die Autorin
Yasmina Reza ist 1959 geboren. Sie ist französische Autorin, Regisseurin und Schauspielerin. Mit ihren Theaterstücken hat sie international grossen Erfolg. Ihr Stück «Der Gott des Gemetzels» wurde 2011 von Roman Polanski verfilmt.