Ich kenne Roberto Saviano als investigativen Journalisten. Als Non-Fiction-Schreiber, der sich als Mafia-Experte verdient gemacht hat. Sein Sachbuch «Gomorrha» hat mich erschüttert. Und mich darüber aufgeklärt, wie weit der Arm der Mafia reicht, wie professionell «das System» funktioniert und wie gnadenlos es ist!
Weniger erschütternd, dafür gnadenlos ist Savianos erster fiktionaler Roman «Der Clan der Kinder». Gnadenlos unterhaltsam und gnadenlos real. Ich erhalte Einblick in den Alltag einer Jugendbande in Neapel, für die es «keinen geschützten Weg zum Heranwachsen gibt» und die nach dem Credo handelt: «Wenn du aus dem armen Neapel kommst, musst du dir den Respekt erobern». Und den kriegst du mit Macht, Geld, Waffen und schönen Frauen.
Zehn Jungs bilden zusammen eine Paranza, eine Jugendbande. Sie haben alle klingende Spitznamen: Maraja, Dentino, Drone, Lollipop, Drago. Mit ihren Mopeds rasen sie durch die Innenstadt von Neapel und ballern wild um sich. Sie wollen so das Quartier Forcella unter ihre Herrschaft bringen. Maraja ist der Anführer. Ein cleverer Stratege, der weiss: Es gibt entweder Schwache oder Starke, Verarschte oder Verarscher. Keine Frage, zu wem er gehört. Zu diesen idiotischen Heldenmythen lässt Saviano seine Jungs den Song von «50 Cent», Get Rich or Die Tryin' hören. Und genau um dieses Reichwerden, egal zu welchem Preis, geht es in Roberto Savianos Buch.
Daumen rauf
- Abgerundetes Bild. Im Sachbuch «Gomorrha» informiert, enthüllt und klagt Saviano an. In «Der Clan der Kinder» tut er das nicht. Hier geht es ihm um die Innensicht. Er will mich emotional berühren, indem er der jungen Camorra 2.0. ein Gesicht und eine Stimme gibt.
- Milieustudie. Ich erlebe mit, wie sich eine Gruppe von Jugendlichen zu Mafiosi entwickelt. Welchen Vorbildern sie nacheifern und warum sie zu den Waffen greifen: «Dieser Keramiktopf erschien ihm wie ein Geschenk des Himmels, eigens dort hingestellt, damit er beweisen konnte, dass er imstande war, jemanden in den Kopf zu schiessen, wie ein echter Krieger.»
- Gruppendynamik. Jetzt weiss ich wie eine Baby-Gang, eine Paranza, funktioniert. Einmal drin kommt man nicht mehr raus. Aus.
- Ohnmacht. Betroffen hat mich gemacht, wie Saviano die Beziehung zwischen Maraja, dem Anführer der Paranza, und seinen Eltern beschreibt. Wie Mutter und Vater nicht mehr an ihren sechzehnjährigen Sohn herankommen. Sie wissen nicht, was auf der Strasse läuft. Haben jedoch eine Ahnung, dass ihr Sohn zu den Bösen gehört.
Daumen runter
- Trivial. «Der Clan der Kinder» ist ein unterhaltsamer Mafia-Thriller. Und genau darin liegt die Krux. Unterhaltung geht hier auf Kosten von kritischer Distanz. Und in Folge auf Kosten von Savianos Schlagkraft gegen die Mafia. Das Ende ist enttäuschend. Gewalt wird glorifiziert. Statt Weitsicht folgt Vendetta! Das passt mir nicht.
- Stumpft ab. Es fliesst in diesem Buch so viel Blut, das mich die schlimmsten Verbrechen am Ende kalt lassen. Auch wenn sie wahr sind. Wie die Geschichte von dem zehn Jahre alten Biscottino, der einen Mafioso umlegt und vor dem Abdrücken sagt: «Um ein Junge zu werden, hab ich zehn Jahre gebraucht, um dir ins Gesicht zu schiessen, brauche ich eine Sekunde.» Peng.
- Glorifiziert. Saviano nährt mit seinem Thriller Mafia-Mythen. Den eigenen Beweis liefert der Autor gleich selbst. Er lässt unter anderem seine Jungs im Buch wie Genny Savastano aus dem Film Gomorrha frisiert auftreten und sie Filmsequenzen aus Il Camorrista nachspielen. Grrrrrr. Und was das Schlimmste ist: Auch ich bin nicht dagegen gefeit! Ein Blick in meine DVD-Sammlung genügt. Da stehen: Der Pate I , II, III, Scarface, Goodfellas, Gomorrha und The Sopranos. Neiiiiiiiin.
- Literarisch schwach. Wenn Saviano seinen Worten poetischen Nachdruck verleihen will, wird's schwülstig. Und dort, wo er die Abgründe seiner Figuren ausleuchten sollte, fehlt ihm das Flutlicht.
- Namedropping und verworrene Familienclan-Beziehungen bremsen die Geschichte aus.
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Der Autor
Roberto Saviano, 1979 in Neapel geboren, arbeitete als Journalist. Wegen anhaltender Morddrohungen von Seiten der Camorra lebt er seit mehr als zehn Jahren im Untergrund. Bei Hanser erschienen u.a. «Gomorrha» (2007), «Das Gegenteil von Tod» (2009) und «ZeroZeroZero» (2014).
Das Buch: Roberto Saviano: «Der Clan der Kinder» (2018, Hanser)
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