Japan 1999. Ein Junge, 14, findet unter seinem Pult in der Schule täglich Zettel mit kurzen Nachrichten und Fragen: «Wir gehören zur selben Sorte», «Was hast Du bei dem Regen gestern gemacht?», «Ich möchte mich mit dir treffen». Ein Scherz, oder was? Ninomiya und die andern haben noch nie gescherzt.
Angst plagt den Jungen, Kopfweh, Appetitlosigkeit. Was, wenn hinter diesen Botschaften seine Peiniger stecken, die ihn an einen Ort locken wollen, um ihn fertig zu machen? Doch ignorieren kann er die Briefe auch nicht. Der namenlose Ich-Erzähler will den Verfasser kennenlernen.
Am Tag des Treffens beobachtet er nervös Ninomiya und die andern. «Was glotzt du so blöd?» sagt einer und wirft den Schuh nach ihm. Der Slipper trifft ihn mitten ins Gesicht. «Aufheben und herbringen!»… Was wohl das Treffen mit sich bringen wird?
Daumen rauf
- Unbequem. Mit ruhiger Erzählstimme und einer Natürlichkeit, die die Drastik des Geschilderten unterstreicht, prangert Mieko Kawakami eine Gesellschaft an, die kein Anderssein erträgt. Die Mobbing-Betroffene als Weicheier darstellt und es spassig findet, wenn ein schielender Junge und ein ungepflegtes Mädchen wegen ihres Aussehens schikaniert, geärgert und gequält werden. Dabei ist Mobbing eine Form von Gewalt, der man mit Null-Toleranz zu begegnen hat. Howgh.
- Beunruhigend. Alle Tipps gegen Mobbing, die ich kenne, erweisen sich in «Heaven» als unbrauchbar. Der Junge kann sich gegen seine Aggressoren nicht wehren, auch wenn er das will. Er ist blockiert, kann nicht sprechen, gefriert seelisch und körperlich ein. Vermutlich leidet er an einer Art Depression. Und weil Ninomiya und seine Kollegen taktisch vorgehen, kriegt auch niemand Wind von der Sache: «Egal, ob sie mich traten, schlugen oder zu Boden stiessen, jeder Stoss, Schlag oder Tritt war so dosiert, dass er keine Spuren hinterliess.»
- Verstörend. Die Autorin stellt dem Jungen eine Freundin zur Seite, die ihre Opferrolle bewusst annimmt: Kojima. «Du stinkst! Du bist eklig!» wird ihr an den Kopf geworfen, wenn sie nicht gerade unter Wasser gedrückt wird, um ein kaltes Bad verpasst zu bekommen. Ihre Schwäche, ihr Leiden macht Kojima zu ihrem Ritual. Sie zelebriert ihr Anderssein, verzichtet sogar aufs Essen als Zeichen dafür. Magert ab, wird zu einer Lichtgestalt, die glaubt, innerlich stärker zu sein als ihre Widersacher. Autsch.
- Vielschichtig. «Heaven» ist ein mehrstimmiges Buch. Auch die Mobber kommen zu Wort. Ihre Perspektive zu erfahren, stellt für mich einen Mehrwert dar. Und ich kapiere allmählich, dass es reine Zeitverschwendung ist, ihre Beweggründe verstehen zu wollen. Sie handeln nach dem Lustprinzip. Zufällig pflücken sie sich jemanden, schiessen sich dann auf die auserwählte Person ein, gehen so weit sie nur können und scheren sich um jegliches Schuldbewusstsein.
- Bewegend. Kojima und der Junge haben keine Wahl. Für sie gibt es keine andere Welt. Ihre Freundschaft und Liebe ist der einzige Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlt. Und fällt dieser Ort weg, dann müssen sie einen neuen «Heaven» finden und darauf vertrauen: «Wer loslässt, was er hat, bekommt, was er braucht.»
Daumen runter
- Etwas plakativ. Mit den Mobbingopfern «Junge mit Schielauge» und «Mädchen als Schmutzfink» bekräftigt die Autorin das Vorurteil, dass Mobbing jene trifft, die nicht der Norm entsprechen. Das ist aber falsch. Mobbing kann jeden treffen.
Was haltet ihr von «Heaven»? Diskutiert mit auf Facebook oder Instagram «Die BuchKönig bloggt».
Die Autorin
Mieko Kawakami, geboren in Osaka, ist die Autorin des internationalen Bestsellers «Brüste und Eier» (DuMont 2020), der vom Time-Magazine unter die besten zehn Bücher 2020 gewählt wurde. 2006 debütierte Kawakami als Lyrikerin und veröffentlichte im Folgejahr ihren ersten Roman «My Ego, My Teeth, and the World». Für ihr Werk wurde sie mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter der bedeutende Akutagawawa-Preis für japanische Literatur. Die Autorin lebt in Tokyo, Japan.
Das Buch: Mieko Kawakami: «Heaven» (DuMont, 2021)