Im Film war Winnetou ein Franzose und ist nie durch die Great Plains geritten, sondern durch die Weiten Kroatiens. Das ist so absurd wie die Tatsache, dass Indianer-Häuptling Sitting Bull als Statist und Zuschauer-Magnet in der Wild West Show von Buffalo Bill spielt. Und mit ihm bevölkerten Hunderte von echten Indianern das gigantische Freilichtspektakel, das durch Amerika tourte. Das war 1885.
Ein makabrer Spass
Was daran erschüttert: All diese Indianer spielten das Massaker ihres eigenen Volkes nach. Vor riesigen, bunt bemalten Leinwänden. Mit Dutzenden von Bisons, Ponys, Cowboys und Männern des siebten Regiments. Zwei Mal am Tag, vor mehr als 18'000 Zuschauern. Ein makabrer Spass.
«Die Menge kreischt, beschimpft ihn. Es wird gespuckt. Hier ist es, das Unerhörte, die Rothaut, der, den man sehen wollte, das seltsame Tier, das um unsere Farmen streunte, so heisst es; er ist es! Aus den Kulissen winkt Buffalo Bill Frank Richmond, der die Zuschauer zu beruhigen versucht. Aber es ist nichts zu machen, der Indianerhäuptling muss unter den Beschimpfungen seine Runde abschreiten, bis zum Schluss. Das Getöse ist mächtig. Die Journalisten fotografieren. Die Kinder schauen entgeistert. Und langsam verlässt Sitting Bull die Manage.»
Daumen rauf
- Tomahawk gegen Schiesspulver: Der Franzose Éric Vuillard ist klar pro Indianer. Das gefällt mir. Als Kind wäre ich liebend gern als Indianerin geboren worden. Und bei unseren Spielen in der Nachbarschaft kämpfte ich verbissen gegen die hinterhältigen Cowboys mit ihren Schiesseisen.
- «Traurigkeit der Erde» ist ein engagiertes Stück Literatur. Es entlarvt den amerikanischen Gründungsmythos als Lüge. Denn die Schlachten der Sieger waren Massaker an den Indianern. Wounded Knee zeugt davon. Hugh! Éric Vuillard hat gesprochen.
- Haben Sie gewusst, dass das wilde Kriegsgeheul der Indianer eine Erfindung von Buffalo Bill war? Den Legenden nach hat er für seine Show die Indianer angehalten, ihre Hand auf den Mund zu klatschen und «wuh, wuh, wuh» zu heulen. Dieses «Siouxgeheul» in der westlichen Hemisphäre ist also eine Groteske, die so weder in den Great Plains, noch in Kanada oder sonst wo, stattgefunden hat. Das nicht zu wissen, wäre peinlich!
- «Traurigkeit der Erde» liest sich wie «Der mit dem Wolf tanzt». Vuillard führt vor Augen, warum Millionen von Amerikanern die Show von Buffalo Bill sehen wollten: Weil sie im Geiste die Great Plains durchqueren, die Schluchten des Colorado durchmessen und das Leben der Pioniere erleben konnten. Und das, ohne dabei skalpiert zu werden.
- «Traurigkeit der Erde» ist ein trauriges Buch. Besonders das Kapitel über Wounded Knee hat mir zugesetzt. Das liegt nicht nur an den historischen Fakten, sondern an Vuillards bildstarker Sprache: «Und ein heftiger Sturm kam auf. Der Schnee fiel vom Himmel wie eine Weisung Gottes. Die Flocken wirbelten um die Toten, leicht und heiter. Sie legten sich auf das Haar, auf die Lippen. Die Lider waren sämtlich mit Reif bestirnt. Wie zart eine Flocke doch ist! Wie ein müdes kleines Geheimnis, eine verlorene, untröstliche Sanftheit.» Erinnert ganz schön an Kevin Costners Film. Vielleicht hat sich ja Vuillard den auch angesehen.
Daumen runter
- Éric Vuillard reitet trotz kritischer Haltung auf der gleichen Welle wie Buffalo Bill. Buch wie Show leben von den Wild-West-Klischees, die sich in den letzten zweihundert Jahren in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben. Autsch. Das tut weh!
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Der Autor
Éric Vuillard wurde 1968 in Lyon geboren. Er ist Schriftsteller und Regisseur. In seinen Büchern erzählt er grosse Momente der Geschichte neu. Für dieses eigene Genre wurde er mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.