Tom chauffiert VIP-Geschäftsleute von Genf nach Bern, von Basel nach Vaduz oder gar nach Mürren, ins Herz der Schweiz, zu Eiger, Mönch und Jungfrau. Er liebt diese nächtlichen Fahrten, in denen ihm die Schweiz fremd, gefährlich und schemenhaft vorkommt. Doch während «die Strasse matt schimmert wie von Asche überzogen» schweifen Toms Gedanken immer wieder zu Nina, seiner verstorbenen Frau.
Ninas Tod vor einem Jahr hat ihm alles genommen. Hat ihn und seinen zwölfjährigen Sohn Vince zurück in die alte Heimat gezwungen. Schmerzliche Erinnerungen blitzen auf. Und wie von Geisterhand erscheint ihm Ninas Gesicht auf der Windschutzscheibe. Die vollen Lippen, die blauen Augen.
Daumen rauf
- Bemerkenswert. Tom Kummer vermischt in seinem autofiktionalen Roman Traum, Traumata und Wirklichkeit. Schildert erschütternd unverblümt, was passiert, wenn die Toten zurückkehren, in einem Fäden spinnen und einen dann Marionetten gleich zu lenken beginnen.
- Kunstvoll. «Von schlechten Eltern» ist Zen in der Kunst des Trauerns. Diesen Roman zu lesen heisst, sich meditativ auf «Han» einzulassen. Toms koreanische Nachbarn in Los Angeles haben ihm nämlich einst erzählt, dass Han die koreanische Bezeichnung für eine extreme Traurigkeit sei. Eine Traurigkeit, die einen Sog entwickeln und sogar zum Tod führen kann. «Ein Weltschmerz. Ein Wahnsinn. Ein Kummer.»
- Humorvoll. Besonders erbaulich ist der Blick des Autors auf die heutige Schweiz, in die er zurückgekehrt ist, nachdem er mehr als zwanzig Jahre in den USA verbracht hatte. Mit spitzem Witz bringt Kummer die Unterschiede auf den Punkt. Beispielsweise in Sachen Wasserdruck: «Das Wasser in L.A. roch nach alten Leitungen und der Wasserdruck war unberechenbar. Schweizer Wasser fühlt sich göttlich an. Sauber. Sicher. Vielleicht sogar gesund. Angenehm, es zu hören, zu spüren, wie es aufklatscht und über die Haut fliesst. Einen Augenblick lang empfinde ich Frieden.»
- Antagonistisch. Der Autor zeichnet seinen Protagonisten widersprüchlich. Toms Handeln und Denken lösen bei mir widerstreitende Gefühle aus. Eine solche Figurenzeichnung erachte ich als Qualität.
- Entwaffnend ehrlich. Eine unkonventionelle Vater-Sohn-Beziehung. Ein Vater, der seinen Sohn mehr braucht als dieser ihn. Ein Sohn, der seinem Vater helfen will. Tom Kummer bringt in Sachen Elternschaft zur Sprache, was man sonst nie zu lesen bekommt. Auch Väter dürfen mit ihren Kindern kuscheln. Das illustriert folgende Textstelle gut: «Ich taste mich in sein Schlafzimmer. Ich kann seine Mutter riechen. Die kleine Nachttischlampe verbreitet ein schwaches Licht. Ich lege mich an seinen Körper. Er hat sich nicht gewaschen. Ich rieche Ninas Muschelgeruch. Er nimmt jetzt meinen Arm und legt ihn um seine Taille. Er presst meine Hand, streichelt sie, lässt nicht mehr los. Ich nehme ihn fester in die Arme, drücke meine Nase in seinen Nacken. So schlafen wir ein.»
- PS. Ist das wirklich «von schlechten Eltern», wenn Toms Junge immer pünktlich zu essen, genügend Schlaf und Liebe bekommt? Wenn er ohne Regeln spielen kann, sich ernst genommen fühlt und seine Entscheidungen selbständig trifft?
- PPS. Habt ihr gewusst, dass J.R.R. Tolkien das Lauterbrunnental besucht hat und sein Lieblingsberg der Schwarzmönch ist? Wenn man in seine Richtung blickt, sieht man dahinter das Silberhorn. «Jene Eisspitze, die in ‹Herr der Ringe› als ‹Silberzinne Celebdil› beschrieben wird.» Das und noch viel mehr könnt ihr von Tom erfahren!
Daumen runter
- Nichts was zählt. Gefühlsmässig hat das Buch etwas Hoffnungsloses. Da ist viel Schmerz. Diese Empfindung wird durch das offene Romanende, das verschiedene Schlüsse zulässt, verstärkt.
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Der Autor
Tom Kummer, geboren 1961 in Bern, ist ein Schweizer Autor. Als Journalist löste er im Jahr 2000 wegen fingierter Interviews einen Medienskandal aus. Nach mehreren Jahren in Los Angeles mit seiner Familie lebt er wieder in Bern. «Von schlechten Eltern» wurde für den Schweizer Buchpreis 2020 nominiert.
Das Buch: Tom Kummer: «Von schlechten Eltern » (Tropen, 2020)
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