«Patria» erzählt die Geschichte zweier Familien in einem baskischen Dorf. Die Mütter Bittori und Miren sind beste Freundinnen. Klatschweiber. Die Väter Txato und Joxian gute Kumpels. Gehen zusammen Radrennfahren, heben mal ein Glas. Doch dann beginnt ihre Freundschaft zu bröckeln.
Die beiden Familien werden zu erbitterten Feinden. Denn der älteste Sohn von Miren und Joxian schliesst sich der ETA an. Und Txato, erfolgreicher Unternehmer, wird von der ETA denunziert: «Txato, du Verräter, du Spitzel, Txato, du Schwein. Hau ab, verschwinde oder wir knallen dich ab» wird an die Wände geschmiert. Und dann passiert, was niemand zu denken wagt. Txato wird exekutiert. Und möglicherweise ist Mirens Sohn in den Mord involviert. Joxe Mari, der für andere Attentate lebenslänglich kriegt:
«DU FRAGST DICH: War es das wert? Und als einzige Antwort bekommt man das Schweigen dieser vier Wände, das immer älter werdende Gesicht im Spiegel, das Fenster mit dem Stück Himmel, da draussen, für die andern. Und wenn er sich fragt, was er falsch gemacht hat, antwortet er: Nichts. Er hat sich für Euskal Herria geopfert. Tapferer Junge! Und wenn man ihn noch einmal fragt, antwortet er: Ich war nicht klug genug, man hat mich manipuliert. Bereut er denn? Er hat Tage, da ist seine Moral am Boden. Dann schmerzt es ihn, bestimmte Dinge getan zu haben.»
Daumen rauf
- «Patria» geht unter die Haut. Gleich zu Beginn erfahre ich von diesem gewaltsamen Tod. Und dann tröpfchenweise was vor 25 Jahren geschehen ist und seit dann geschah. Mit jeder Seite wächst meine Betroffenheit. Ah!
- Fernando Aramburu gibt den Opfern der ETA eine Stimme. Ohne dabei politisch, pathetisch oder sentimental zu werden. Die Einzige, die Tränen vergiesst, bin ich als Leserin. Während die schicksalsgeprüften Mütter Bittori und Miren das nicht tun. Sie sind eiserne amas.
- Dieses Buch macht süchtig. Keine der 756 Seiten ist mir zu viel. Aramburu schreibt szenisch. Seine Kapitel sind kurz. Die Sprache glasklar. Die Figuren aus Fleisch und Blut. Die Dialoge scharf, schlagfertig und lebendig. Das liest sich zackzack.
- Und dann diese Erzählperspektive. Loca. Mit fast jedem Kapitel wechselt sie. Verschachtelt die Erinnerungen und Gedanken von neun Menschen. Ich habe das Gefühl, einen Chor erzählen zu hören. Und dieser Chor setzt sich zusammen aus einem nicht allwissenden Erzähler und den neun Familienmitgliedern, die auf irgendeiner Wolke sitzen und auf ihr Leben runter blicken.
- Grossartig konstruiert. Bittori, die Witwe von Txato, kehrt nach 25 Jahren in ihr Dorf zurück. Aber jetzt, wo der bewaffnete Kampf der ETA aufgehört hat, sehen viele im Dorfdas als Provokation. Doch Bittori hat andere Absichten. Sie hat Krebs. Und nicht mehr viel Zeit, um zu reden und mit sich und Txatos Tod ins Reine zu kommen.
- In «Patria» geht es um Vergebung. Und Vergebung ist nur dann möglich, wenn Leid nicht totgeschwiegen wird. Aramburu reisst alte Wunden auf. Genau zur richtigen Zeit. Am 2. Mai 2018 hat sich die baskische Untergrundorganisation aufgelöst und ihre Opfer um Vergebung gebeten. Ob das reicht?
Daumen runter
- Fernando Aramburu braucht viele baskische Ausdrücke. Das Nachschlagen im Glossar ist etwas lästig. Baina kaixo? Aber Hallo? OK. Ich nehme diesen Daumen runter zurück. Der zählt nicht und sage agur. Auf Wiedersehen.
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Der Autor
Fernando Aramburu wurde 1959 in San Sebastian im Baskenland geboren. Seit Mitte der achziger Jahre lebt er in Hannover. Für seine Romane wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Premio Euskadi und zuletzt, für «Patria», mit dem Premio Nacional de la Critica und dem Premio Nacional de Narrativa 2017.
Das Buch: Fernando Aramburu: «Patria» (2018, Rowohlt). Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen.
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