Ich sage nur: Depro-Lektüre! So depro, dass ich dieses Buch fast nicht zu Ende lesen konnte. Nein, ein schlechtes Zeichen ist das nicht. Im Gegenteil. «Und es schmilzt» macht mich einfach fertig. Alles schmilzt hier weg. Die Zuversicht, das Glück, das Leben. Das geht mir an die Nieren. Unvergesslich.
Eva de Wolf heisst die Ich-Erzählerin. Sie ist in den Zwanzigern. Hat studiert und lebt seit neun Jahren in Brüssel. Ihre Kindheit und Teenagerjahre hat sie in einem belgischen Dorf verbracht. In einer Ortschaft, in der es nicht viel gibt ausser zwei Kneipen. Die eine heisst «Die Nacht», die andere «Willkommen». Und hier wird gebechert.
Saufen tun auch Evas Eltern. Einmal zwingt ihr Vater sie im Halbsuff, morgens um elf Uhr, in einen Schuppen. Dort zeigt er ihr die Schlinge, an der er sich aufzuknöpfen gedenkt… Eva ist es gewohnt, dass ihre Eltern Hoffnungslose sind. Sie reagiert auf die Suizidabsicht kühl, distanziert. In ihrem Innern aber sieht es anders aus. Da kocht's. Und Eva merkt, wenn sich an ihrer Situation nicht bald was ändert, wird sie innerlich daran kaputt gehen. Eva will weg und zieht nach Brüssel. Jahre später holt sie die Vergangenheit ein. Sie kehrt in ihr Dorf zurück - endgültig.
Daumen rauf
- Wunderschönes, melancholisch wirkendes Cover. Das macht mich neugierig.
- «Und es schmilzt» ist ein Drama nach allen Regeln der Kunst gemacht. Es schmilzt nicht nur. Unter dem Schnee kommt immer mehr Schlimmes und noch Schlimmeres hervor.
- Autsch. Was das bringt? Ich weiss nach der Lektüre: Ich bin Mensch. Trotz massenmedialer Abstumpfung, meine Empathie-Fähigkeit ist noch da. Hurra!
- Lize Spit bringt in diesem Buch die Brutalität des Erwachsenwerdens auf den Punkt: Wie es ist, wenn man sich im eigenen Körper nicht mehr zu Hause fühlt und unsicher ist.
- Das Buch hat eine beängstigende Intensität. Spit haucht ihren leidenden Figuren Leben ein. Das macht sie durch ihre Beobachtungsgabe und ihre präzise Sprache. Ich kann mich in ihre Figuren hineinversetzen. Und es werden Erinnerungen an die eigene Teenager-Zeit wachgerüttelt. Zum Beispiel als die Ich-Erzählerin erzählt wie sie ihr Körpergefühl verliert: «Inzwischen weiss ich, dass nichts gegen dieses Gefühl ankommt. Es überkommt mich auch jedes Mal, wenn ich in der Badewanne sitze und mich wasche. Dann legt sich etwas auf meine Haut. Es schliesst mich ein, spannt sich an, zeigt mir deutlich, dass ich mich am falschen Ort befinde. Vielleicht ist das entstanden, weil ich kurz nach Zwillingen zur Welt gekommen bin, aus einer Gebärmutter, die noch etwas ausgeleiert war, dachte ich neulich. Vielleicht sass Mama die ersten neun Monate zu locker um mich herum.» Das erschüttert.
Daumen runter
Dieses Buch ist nichts für sensible Seelen. Hätte ich nicht gleich nach der Lektüre zufällig Rolf Dobellis wunderbaren Artikel über die Kunst eines guten Lebens in der NZZ gelesen, ich wäre noch immer niedergeschlagen von «Und es schmilzt».
Dobelli weiss einen guten Trick, mein angeschlagenes Glücksgefühl wieder in die Höhe zu jagen. Mit «mentaler Substraktion»: Ich muss mir nur vorstellen, mein Leben wäre tatsächlich so wie das von Eva verlaufen. Das ist zum Glück nicht passiert. Darum kann ich jetzt wieder aufatmen. Uff!
Was meint ihr? Sagt mir und diskutiert auch miteinander, was ihr über «Und es schmilzt» von Lize Spit denkt - auf Facebook.
Die Autorin
Lize Spit wurde 1988 geboren und wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf. Heute lebt sie in Brüssel. «Und es schmilzt» ist ihr Debüt, das lange auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste stand und zahlreiche Preise bekam. Jetzt ist ihr Erstling endlich auf Deutsch erschienen. Helga van Beuningen hat es übersetzt.
Das Buch: Lize Spit: «Und es schmilzt» (2017, S. Fischer)
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