Im Fieberrausch Band 3 gelesen. Jetzt fiebere ich schon Band 4 entgegen. Nicht schlecht Signora Ferrante. Leider kann ich Ihnen nicht persönlich gratulieren. Sie wollen anonym bleiben. Klar. Bei dem vielen Gossip, der da zirkuliert. Und auch ihr Buch gibt ganz schön viel zu reden.
Band 3 «Die Geschichte der getrennten Wege» spielt in den 1970er Jahren in Neapel und Florenz. Die beiden Hauptfiguren Lenu und Lila sind junge, selbstbewusste Frauen. Lila hat sich aus ihrer Ehe befreit. Und damit ihrem Mann und der Camorra den Stinkefinger gezeigt. Nun muss sie sich in einer Salami-Fabrik abrackern. Bei schlechtem Lohn und miserablen Arbeitsbedingungen. Um sich und ihren kleinen Jungen durchzubringen.
Anders das Schoggi-Leben ihrer Freundin. Lenu startet durch: als Jungautorin, als Frau eines gut betuchten Professore. Doch statt Karriere und Antibaby-Pille kriegt sie Kinder. Auf Nummer eins folgt Nummer zwei. Intellektuell unterfordert, dümpelt Lenu als Hausfrau so dahin. Bis Nino Sarratore, ihre Jugendliebe vor der Türe steht:
«Nino hatte den dichten Bart nicht mehr, mit dem ich ihn Jahre zuvor in der Buchhandlung gesehen hatte, aber seine Haare waren noch lang und zerzaust. Ansonsten war er der Junge von damals geblieben, hochgewachsen, spindeldürr, mit leuchtenden Augen und nachlässiger Kleidung. Er umarmte mich, hockte sich hin, um die Mädchen zu tätscheln, stand wieder auf und entschuldigte sich für den Überfall. Ich brummelte nur ein paar distanzierte Worte: «Komm rein, setzt dich doch, du in Florenz, wie kommt’s denn.» Mir war, als hätte ich heissen Wein im Kopf, ich konnte dem, was gerade geschah, keine Konkretheit geben: er, ausgerechnet er, bei mir zu Hause.»
Daumen rauf
Vier Gründe warum dieses Buch Weltklasse ist:
- «Die Geschichte der getrennten Wege» ist ein Sittengemälde. Ein Zeitdokument. Ein politischer Roman: Er steht exemplarisch für das Leben in den 1970er Jahren im Rione, in Neapel, in Italien. Da herrschen Chaos und Klassenkampf. Kommunisten gegen Faschisten. Studenten und Arbeiter gegen Unternehmer. Männer gegen Frauen. Feministische Manifeste zirkulieren. Auch Lenu und Lila sind dabei. Lenu will sich nicht abgerackert haben, um am Ende «Scheisse abzuwischen und Windeln zu wechseln». Und Lila nutzt den Klassenkampf, um an ihren Widersachern, zwei Mafia-Brüdern, Rache zu üben.
- Elena Ferrante liest man nicht. Man lebt ihre Bücher. Ich fühle Lilas Zorn physisch. Lenus Frust. Ich sehe, taste, schmecke und rieche. Dieses Buch ist nicht nur Zeitreise. Es ist Mutation: Ich bin Lenu!
- Da geht's um Freundinnen, die vor nichts zurückschrecken, die sich gegenseitig anspornen und vernichten. Mal einsam, mal zweisam kämpfen die beiden resilienten Frauen sich aus Dreck und Armut ans Licht. Bis die eine plötzlich verschwindet. Und die andere feststellt: «Nicht der Rione ist krank, nicht Neapel, die ganze Erde ist es, das Universum ist es, oder die Universen. Und die Kunst besteht darin, den wahren Zustand der Dinge vor anderen und vor sich selbst zu verbergen.» Drammatico.
- Und dann Ferrantes Schreibstil. Unaufgeregt, elegant, sanft, episch. Ich tauche ins Bewusstsein der Ich-Erzählerin ein. Das hat mich überwältigt. Grossen Dank an die Übersetzerin Karin Krieger.
Daumen runter
- Von diesem Buch-Cover wird mir schlecht. Kitsch, gelbe Abenddämmerung. Igitt.
- Ein kleiner Seitenhieb von mir als Boxerin in Richtung Verlag: Habt Ihr geschlafen, oder was? Das hat ja gedauert mit der deutschen Ausgabe. Himmel nochmal.
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Die Autorin
Elena Ferrante ist ein Pseudonym. Man vermutet, dass die Übersetzerin Anita Raja, geboren 1953 in Neapel, hinter der geheimnisvollen Autorin steckt. Das haben Nachforschungen eines Journalisten ergeben, der den Zahlungsverkehr zwischen Elena Ferrantes italienischem Verlag und Anita Raja unter die Lupe genommen hat.
Bestätigt wurde das aber bislang nicht. Ist auch recht so.
Das Buch: Elena Ferrante: Die Geschichte der getrennten Wege (2017, Suhrkamp)