Die Europäische Weltraum-Organisation (ESA) rekrutiert seit diesem Frühjahr erstmals seit zwölf Jahren wieder Astronautinnen und Astronauten. Lavinia Heisenberg hat lange auf diese Gelegenheit gewartet und sich gleich beworben. Die deutsche Physikerin hat schon immer davon geträumt, ins All zu fliegen. Dabei hat sie die letzten 37 Jahre keineswegs nur mit Träumereien zugebracht.
Im Gegenteil: Heute ist sie Professorin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und hat bereits eine beeindruckende Liste von Publikationen vorzuweisen. Für ihre Arbeit über die Gravitation, welche Einsteins Relativitätstheorie vervollständigen soll, wurde sie ausgezeichnet.
SRF: Der Form halber: Können Sie offiziell bestätigen, dass Sie eine europäische Astronautenkandidatin sind?
Lavinia Heisenberg: Auf jeden Fall! Ich weiss, dass es viele Bewerberinnen und wenige Plätze gibt und dass meine Chancen gering sind. Also drücken Sie mir die Daumen!
Aber im Ernst: Abgesehen davon, dass ich Wissenschaftlerin bin, erfülle ich auch bestimmte andere Kriterien. Ich halte mich in Form, indem ich verschiedene Sportarten betreibe: Laufen und Krafttraining, aber auch abenteuerlichere Dinge wie Klettern, in der Halle wie auch in den Bergen. Ich trainiere auch meine kognitiven Fähigkeiten, mein Gedächtnis und mache Bogenschiessen, was sehr gut für die Konzentration ist.
Würden Sie auf eine Mission zum Mars gehen?
Natürlich!
Trotz der Gefahren?
Ein Risiko gibt es bei allem, auch in unserem Alltag. Wenn wir uns die Statistiken anschauen, ist es derzeit weniger riskant, auf der Internationalen Raumstation zu sein, als ein Auto zu fahren.
Während der Reise werden die Astronauten und Astronautinnen der kosmischen Strahlung ausgesetzt sein. Das ist ein handfestes Problem, aber auf dafür suchen wir Lösungen und werden sie finden.
Abgesehen von Ihrem Wunsch, Astronautin zu werden, was hat Sie dazu bewogen, Physik zu studieren?
Die Neugierde. Warum stossen sich zwei Magnete ab, wenn man die Kräfte, die sie abstossen, nicht sehen kann? Solche und andere Kinderthemen. Und vielleicht auch ein bisschen Science-Fiction.
Ich habe zum Beispiel Star Wars geliebt. Heute haben wir auch «realistischere» Filme wie «Alone on Mars» oder «Interstellar». Das ist gut, das kann junge Menschen inspirieren.
Die meiste Zeit ihrer Arbeit ist an Papier, Tafeln oder Bildschirme gebunden. Haben Sie noch Zeit, den Sternenhimmel zu betrachten?
Das ist vor allem eine Frage des Wohnorts. Bei der Lichtverschmutzung in der Stadt kann man nichts mehr sehen. Man müsste wegziehen. Deshalb gehe ich im Sommer nachts am See spazieren, dann kann ich wenigstens den Mond und ein paar Sterne sehen.
Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was man sehen würde, wenn die Bedingungen ideal wären. Ich habe einen Teil meines Studiums in Chile absolviert und hatte die Gelegenheit, in die Atacama-Wüste zu reisen, wo sich die grössten Teleskope der Welt befinden. Es ist wirklich aussergewöhnlich dort! Allerdings habe ich nie an einem dieser Orte gearbeitet, weil ich keine Sternwarten-Astronomin bin.
Welche Art von Astronomie betreiben Sie?
In meiner Gruppe an der ETH versuchen wir, die fundamentalen Eigenschaften der Schwerkraft zu verstehen – also der Kraft, welche die Wechselwirkungen zwischen Objekten im grossen Massstab regelt.
Wir versuchen, die Schwerkraft dabei aus verschiedenen Perspektiven zu formulieren, indem wir Theorien und konkrete Beobachtungen, wie die der Gravitationswellen, miteinander verbinden. Wir sind auch an den Auswirkungen der Quantenmechanik auf die Gravitation interessiert.
Das Problem ist, dass Einsteins Theorie bis zu einem bestimmten Massstab funktioniert, aber sobald man ins unendlich Kleine kommt, gilt sie nicht mehr. Die Raumzeit der Allgemeinen Relativitätstheorie kann nicht mit den Begriffen der Quantenmechanik beschrieben werden.
Sie sind in der Grundlagenforschung tätig, da fällt es von aussen schwer, die praktischen Anwendungen zu sehen...
Auch Einstein hatte dieses Problem. Zu seiner Zeit konnte niemand sehen, wozu seine Gleichungen in der Praxis zu gebrauchen sind. Wer hätte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorstellen können, dass künstliche Satelliten die Erde umkreisen? Aber heute erlaubt uns die Beherrschung der Gesetze der Schwerkraft, diese Bahnen zu berechnen, und wer könnte heute noch ohne GPS oder Satellitenkommunikation leben?
Das Gleiche gilt für das Cern. Das Higgs-Boson, das dort nach Jahrzehnten endlich gefunden wurde, nützt uns im Alltag wenig. Aber das Bedürfnis, die eigenen Daten mit der weltweiten Physikgemeinschaft zu teilen, brachte die Forscher im Cern dazu, das World Wide Web zu erfinden. Und wer kann heute schon auf das Internet verzichten?
Deshalb bin ich überzeugt, dass die Physik, die wir heute betreiben, morgen oder übermorgen praktische Auswirkungen haben wird. Wir können nur noch nicht sagen, in welchen Bereichen: neue Energiequellen, neue Wege der Fortbewegung – es sind Dinge, die wir uns noch nicht vorstellen können.
Ihre Familie ist oft umgezogen, als Sie ein Kind waren, Sie haben in verschiedenen Teilen der Welt studiert und gearbeitet und sprechen sechs Sprachen fliessend. Was hat Sie dazu bewogen, in die Schweiz zu ziehen?
Im akademischen Leben muss man oft umziehen, hat oft keine Wahl, es ist schlicht der nächste Schritt in der Karriere. Ich war zufällig als Postdoc an der ETH Zürich, als ich das Glück hatte, einen Starting Grant vom European Research Council zu bekommen, um meine eigene Gruppe zu gründen.
Und ich habe hier so viele fantastische Menschen gefunden, dass es mir schwer fallen würde, wegzugehen. Ich fühle mich hier tatsächlich zu Hause.
Dieser Artikel erschien am 17. Februar 2021 erstmals auf swissinfo.ch